Der 25. März 1945 ist ein angenehm warmer Frühlingssonntag. Morgens besucht die Familie des Aachener Oberbürgermeisters Franz Oppenhoff die Palmsonntagsmesse. Am Nachmittag setzt er zusammen mit seiner Frau Irmgard im Garten das erste Gemüse. Danach bringen sie ihre drei kleinen Töchter zu Bett. So schildern die Journalisten Wolfgang Trees und Charles Whiting in ihrem Sachbuch "Unternehmen Karneval" den letzten Lebenstag des Oberbürgermeisters.
Gegen 22 Uhr klopfen zwei Männer in deutscher Fliegeruniform an die Haustür der Oppenhoffs. Der Haushälterin stellen sie sich als abgeschossene Piloten vor. Sie verlangen Ausweise und Proviant, um sich zu den deutschen Linien durchschlagen zu können. Pässe, sagt der herbeigerufene Oppenhoff, könne er nicht ausstellen. Er wolle aber gerne etwas zu Essen holen. Als er über die Kellertreppe wieder ins Freie tritt, fällt der Schuß: Die Kugel trifft Oppenhoff tödlich in der linken Schläfe. Die Mordaktion unter der Tarnbezeichnung "Unternehmen Karneval" hat Erfolg.
"Hass ist unser Gebet und Rache unser Feldgeschrei"
Die Mörder von Oppenhoff gehören zu einem sechsköpfigen Werwolf-Kommando, das Heinrich Himmler beauftragt hat. Aus Sicht des "Reichsführer SS" hat Oppenhoff durch seine Zusammenarbeit mit den Amerikanern Hochverrat begangen. Für Himmler ist die Einnahme von Aachen am 21. Oktober 1944 eine persönliche Niederlage: Er hatte die Stadt rund einen Monat vor ihrer Kapitulation besucht und öffentlich behauptet, Aachen werde nicht geräumt.
Angesichts der zusammenbrechenden deutschen Fronten in Ost und West will Himmler alle Kollaborateure bestrafen. Neben dem Volkssturm soll auch eine Spezial-Truppe die Wehrmacht unterstützen. Zu diesem Zweck gründet Himmler im November 1944 die verdeckt operierende Werwolf-Organisation: Sie soll nach seinem Willen hinter den gegnerischen Fronten "durch Vollziehung der Todesstrafe an Verrätern erzieherisch" wirken. Hitlers Propaganda-Chef Goebbels droht Abtrünnigen im Rundfunk: "Wo immer wir eine Gelegenheit haben, ihr Leben auszulöschen, werden wir das mit Vergnügen und ohne Rücksicht auf unser eigenes Leben tun. Hass ist unser Gebet und Rache unser Feldgeschrei." Das Symbol der Werwölfe ist die so genannte Wolfsangel - eine Rune, die an ein Hakenkreuz erinnert.
Als Rechtsanwalt verteidigt Oppenhoff Geistliche und Juden
Im Rheinland haben die Werwölfe ihr Hauptquartier in Düsseldorf. Trainiert werden sie von der Waffen-SS im Schloss Hülchrath zwischen Grevenbroich und Neuss. Hier wird auch das Kommando für die Tötung von Oppenhoff zusammengestellt: Zwei SS-Männer, zwei ehemalige Grenzpolizisten, eine BDM-Führerin und ein 16-jähriger Hitlerjunge. Die Gruppe startet vom Fliegerhorst Hildesheim mit einem amerikanischen Beuteflugzeug in Richtung Westfront. Mit Fallschirmen springen die Werwölfe über belgischem Gebiet ab und schlagen sich nach Aachen durch.
Ihr Opfer ist noch nicht einmal fünf Monate im Amt: Nur zehn Tage nach der Einnahme Aachens ist Oppenhoff am 31. Oktober 1944 als erster Oberbürgermeister einer besetzten deutschen Stadt vereidigt worden. Seine Stadtregierung ist die erste durch westliche Truppen auf deutschem Boden eingesetzte Zivilverwaltung. Aachens Bischof Johannes Joseph van der Velde hat den damals 42-jährigen katholischen Rechtsanwalt vorgeschlagen. 1943 hatten die Nazis Oppenhoffs Praxis geschlossen, weil er katholische Geistliche und Juden vor Gericht verteidigt hatte. Danach arbeitete er in einem kriegswichtigen Rüstungsbetrieb als kaufmännischer Direktor und war vom Dienst in der Wehrmacht freigestellt.
Ein Neuanfang mit alten Nazis
Franz Oppenhoff wird heute gerne als Symbolfigur des demokratischen Wiederaufbaus im westlichen Nachkriegsdeutschland gesehen. Zu seinem 60. Todestag am 25. März 2005 lobt ihn zum Beispiel sein Amtsnachfolger, Oberbürgermeister Jürgen Linden (SPD): "Ein Aachener mit Vorbildcharakter für alle, die sich zu den freiheitlichen Grundwerten bekennen." Seine "vom christlichen Glauben getragene Grundüberzeugung" sei eine "Grundlage für die spätere Demokratie der Bundesrepublik" geworden.
Saul K. Padover zeichnet 1945 dagegen ein ganz anderes Oppenhoff-Bild. Der amerikanische Offizier interviewt kurz vor Kriegsende im Auftrag des alliierten Oberkommandos zahlreiche Deutsche in den von den Amerikanern bereits besetzten Gebieten. Seine Berichte gehen direkt an General Eisenhower. Padover vernimmt auch Oppenhoff. Der Vorwurf aus der Aachener Bevölkerung: In der von ihm aufgebauten Stadtverwaltung wimmle es von Nazis. Padover schreibt in seinem Buch, das 1995 unter dem Titel "Lügendetektor" erstmals auf deutsch erschienen ist: "55 Nazis waren in der Stadtverwaltung beschäftigt." Davon seien 22 Personen in Schlüsselpositionen tätig gewesen. "Ein Bürgermeister war Parteimitglied. Einer der führenden Männer war ein bekannter Gestapospitzel".
Ein Anti-Demokrat als Symbolfigur für die Demokratie?
Oppenhoff rechtfertigt sich gegenüber Padover: "Finden Sie mal fähige Leute, die keine Nazis sind!" Die Kritik aus der Bevölkerung beweise nur, dass sich die Deutschen nicht geändert hätten: "Man kann das ganze Volk in zwei Gruppen einteilen: die einen befehlen, die anderen gehorchen." Er hoffe nur, so Oppenhoff, dass die Amerikaner in Deutschland keine politischen Parteien mehr zulassen würden. Wahlen lehnt er ab. Oppenhoff plädiert vielmehr für ein autoritäres Regime und ein hierarchisch aufgebautes Wirtschaftsleben ohne Gewerkschaften und Mitbestimmung. "Dies ist meine Auffassung von wahrer Demokratie", sagt Oppenhoff zu Padover.
Im Januar und Februar 1945 entlassen die Amerikanern über 30 Mitarbeiter der Stadtverwaltung, darunter enge Mitarbeiter des Oberbürgermeisters. Auch die Ablösung von Oppenhoff selbst wird immer wahrscheinlicher. Seine Ermordung durch das Werwolf-Kommando im März kommt dem zuvor. Als Nachfolger von Oppenhoff bestimmen die Amerikaner Helmut Pontesegger, einen seiner Bürgermeister. Laut Padover gehört er nicht zu Oppenhoffs innerem Kreis.
Werwolf-Prozesse enden mit Straferlass
1947 wird die Kaiserallee in Aachen in Oppenhoff-Allee umbenannt. Im Oktober 1949 findet der Werwolf-Prozess statt: Neben Kommando-Mitgliedern sind auch direkte Hintermänner angeklagt. Zunächst werden Haftstrafen zwischen einem Jahr und vier Jahren verhängt, zwei Angeklagte werden freigesprochen. In zwei Nachfolge-Verfahren werden die Haftstrafen abgemildert und schließlich (nach dem Straffreiheitsgesetz von 1954) ganz erlassen - wegen Befehlsnotstands.