Irith Michelsohns Leben hat sich seit dem Wochenende sehr verändert. Die 70-Jährige ist Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde in Bielefeld und vertritt auch die "Union progressive Juden in Deutschland", zu der mehr als 6.000 Menschen gehören.
Erst gestern Abend ist sie von einer zweitägigen "Pro-Democracy"-Veranstaltung aus Brüssel zurückgekommen. Heute Morgen sitzt sie schon wieder in ihrem Auto, auf dem Weg zu einem nächsten Termin. Das Interview mit ihr führen wir daher telefonisch. Von den Ereignissen im Nahen Osten ist Michelsohn persönlich sehr mitgenommen. Ihre Tochter und ihr Enkel leben in Israel, sie steht in ständigem Kontakt mit ihnen. Ihre Eltern sind einst vor dem Holocaust geflohen.
Mangelnde Distanz aus der muslimischen Bevölkerung
Dass heute für die Hamas demonstriert werden könnte, findet sie entsetzlich. "In der Vergangenheit hat eine Distanzierung zu den Hamas sehr oft nicht stattgefunden", sagt Michelsohn in Bezug auf die muslimische Bevölkerung in Deutschland. Daran fehle es auch heute. Von muslimischen Institutionen und Mitbürgern vernimmt sie nach eigenen Angaben vor allem Schweigen.
Am Dienstag gab es eine Erklärung des "Bündnis islamischer Gemeinden in Bielefeld". Dort hieß es unter anderem:
Eine wörtliche Distanzierung von den Hamas sucht Michelsohn hier aber vergeblich. "Das war wachsweich", kommentiert sie die Erklärung. Anstatt die Terrororganisation beim Namen zu nennen, wird in dem Schreiben vom "Konflikt zwischen Israel und Palästina" gesprochen.
Interreligiöser Dialog liegt auf Eis
In den vergangenen 16 Jahren war sie oft an interreligiösen Dialogveranstaltungen beteiligt. Auch mit islamischen Moscheegemeinden in der Region. Der Austausch und Kontakt über Religionsgrenzen hinweg lag ihr am Herzen. Doch: "Das liegt jetzt erstmal auf Eis. Ich bin nicht bereit, da den ersten Schritt zu machen", sagt Michelsohn jetzt. Die tiefe Enttäuschung über fehlende Solidarität kann sie nicht verstecken.
Dennoch ist sie bemüht, sich immer wieder in die palästinische Bevölkerung hineinzuversetzen, spricht wiederholt ihr Mitgefühl für Leid an Zivilisten aus. Auch unterstützt sie seit vielen Jahren ein ambulantes Kinder- und Jugendzentrum in den palästinensischen Gebieten, das soll weitergehen.
Situation in OWL hängt vom Nahen Osten ab
Vor allem bereitet es der 70-Jährigen aber Sorge, was die Entwicklungen im Nahen Osten in den nächsten Tage für die Juden in der Region bedeuten werden: "Wenn es wirklich eine israelische Bodenoffensive im Gazastreifen gibt, müssen wir sehen, was passiert in Bielefeld und OWL."
Insbesondere wenn es zu vielen zivilistischen Opfern auf palästinensischer Seite kommen sollte, sind ihre Befürchtungen weitreichend: "Ich rechne damit, dass die Stimmung in den nächsten Tagen umschlagen wird."
Dabei sei Bielefeld, was den Antisemitismus angeht, eigentlich sogar eine "friedliche Insel". Dennoch müssten alle Bürgerinnen und Bürger von nun an noch sensibler werden für die Situation der Juden im Land.
Es müsse der deutschen Bevölkerung bewusst werden, dass es noch nie seit dem Holocaust ein solches Morden an der jüdischen Bevölkerung gegeben hat, appelliert sie.
Polizeipräsenz vor Bielefelder Synagoge erhöht
Nachdem NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) höhere Schutzmaßnahmen vor besonders schutzwürdigen Einrichtungen jüdischer Gemeinden angeordnet hat, steht auch vor der Bielefelder Synagoge wieder rund um die Uhr eine Polizeistreife. Vorher hatte es einen solchen Polizeischutz nur zu Veranstaltungen gegeben.
Drei Polizisten stehen am Freitagmorgen vor dem Gebäude an der Detmolder Straße, alle paar Stunden werden sie von einer anderen Streife abgelöst. Zu Zwischenfällen kommt es nicht. Glücklicherweise.
Für den erhöhten Polizeischutz ist Michelsohn dankbar, sie erwartet diesen aber auch vom Deutschen Staat. Sie wünscht sich, dass sie, wie alle deutschen Staatsbürger auch, einfach in Ruhe leben kann in diesem Land.
Jüdische Gemeinde will sich nicht verstecken
Am Betrieb der Synagoge soll sich auch in den kommenden Wochen nichts verändern. Der Alltag der Gemeinde ist das Gebet, das soll weitergehen. Trotzdem wird noch stärker geprüft werden, wer in die Synagoge kommen kann. "Es darf keiner rein, den wir nicht kennen. Wir sind jetzt einfach noch ein Stück vorsichtiger."