"Ohne Abi hast du heutzutage keine Chance" - so oder so ähnlich lautet eine beliebte Stammtischparole. Die Kritik dahinter: Kinder würden zum Abitur gedrängt, Menschen mit anderen Bildungswegen abwertet. Was ist da dran?
Fest steht: In Nordrhein-Westfalen leben in allen 53 Landkreisen und kreisfreien Städten deutlich mehr Menschen mit Abitur oder Fachabitur als noch Anfang der 2010er Jahre. Gleichzeitig hat sich aber auch die Zahl der Menschen ohne Schulabschluss mancherorts verdoppelt.
Das zeigen die kürzlich veröffentlichten Daten aus dem Zensus 2022. Die Volksbefragung zeichnet nach mehr als zehn Jahren ein neues Bild zu den Lebensumständen in Deutschland. Stichtag dafür war der 15. Mai 2022.
Trend zum Gymnasium setzt sich fort
Vor dem Abschluss kommt der Schulbesuch - und hier ist fast überall in NRW der Hang zum Gymnasium zu beobachten: In 51 von 53 Kreisen und kreisfreien Städte ist der Anteil der Kinder, die ein Gymnasium besuchen, dem Zensus zufolge 2022 höher als 2011. Nur in Remscheid und Herne gibt es leichte Rückgänge.
In neun Kreisen und Städten machen Gymnasiasten mehr als ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler aus. Hinzu kommen die Kinder, die ihr Abitur auf einer Gesamtschule ablegen werden.
Wenngleich es auch in ländliche Regionen wie dem Hochsauerland- oder der Rheinisch-Bergische Kreis viele Gymnasiasten gibt, gilt für NRW: Die meisten Kinder gehen dort aufs Gymnasium, wo bereits die meisten gut gebildeten und auch wohlhabenden Menschen wohnen.
Dass dies ein bundesweites Phänomen ist, und soziale Ungleichheit mit darüber entscheidet, welchen Schulabschluss ein Kind erreicht, hat die Bildungsforschung hinreichend belegt. Das ifo-Institut analysiert in seinem "Chancenmonitor" die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs nach familiärem Hintergrund:
Haben beide Eltern Abitur und liegt das monatliche Haushalteinkommen bei mehr als 5.500 Euro netto, geht auch das Kind zu 80 Prozent auf ein Gymnasium. Hat kein Elternteil Abitur und der Haushalt weniger als 2.600 Euro Einkommen zur Verfügung, liegt die Chance nur bei etwa 20 Prozent.
Regionale Unterschiede bei Abitur-Quoten
Der Trend zum Gymnasium setzt sich auch beim Schulabschluss fort: Hatte laut Zensus 2011 nicht einmal jeder dritte Einwohner ab 15 Jahren seine Schulkarriere mit Abitur oder Fachabitur (31 Prozent) abgeschlossen, sind es nun mehr als 40 Prozent. Menschen mit formell hoher Schulbildung stellen also die größte Bildungsgruppe in der Bevölkerung dar.
Zwischen den beliebten Rhein-Metropolen und westfälischen Großstädten, den Ruhrgebietsstädten sowie ländlichen Gebieten tun sich aber starke Unterschiede auf.
Wer in Düsseldorf, Köln, Bonn oder Münster lebt, hat viel häufiger einen hohen Schulabschluss als in anderen Teilen von Deutschlands größtem Bundesland. Hier hat weit mehr als jeder Zweite und damit die Mehrheit der Einwohner Abitur.
Es sind auch die vier Städte, in denen das Wohnen in NRW mit Abstand am teuersten ist: Der Quadratmeterpreis bestehender Mietverträge lag 2022 bei um die neun Euro, bei einem Umzug wurden sogar circa zwölf Euro fällig – im Durchschnitt. Günstiger Wohnraum ist rar, wie die Analyse von WDR Data zum Wohnen zeigt:
Auch sonst finden sich dort hohe Abitur-Quoten, wo die Lebenskosten hoch sind: Im Speckgürtel der rheinischen Großstädte, sowie rund um Aachen, Paderborn und in Bielefeld leben ebenfalls überdurchschnittlich viele Menschen mit Abitur.
Anders dagegen in strukturschwachen Regionen - den ländlichen Gebieten des Sauerlands, Münsterlands oder Ostwestfalens sowie einigen Städten des Ruhrgebiets: Hier hat nicht einmal jeder dritte Einwohner Abitur, und meist ähnlich viele einen Haupt- oder Volksschulabschluss.
Hohes Bildungsniveau und hohe Gehälter
Dass eine hohe Schulbildung den sozialen Aufstieg und einen gut bezahlten Job begünstigt, legt eine Auswertung der Jobbörse "Stepstone" nah: Dem "Gehaltsreport 2024" zufolge verdienen gut gebildete Menschen deutlich mehr als andere. In Köln, Düsseldorf und Bonn, also Städten mit einer höheren Abiturquote, liegen die Durchschnittsgehälter demnach bei um die 50.000 Euro brutto im Jahr. Hier sind zwar die Lebensumstände am teuersten, aber auch die Jobs besser bezahlt.
Viele Einwohner haben gar keinen Schulabschluss
In NRW ist seit dem letzten Zensus nicht nur die Zahl der Menschen mit Abitur gestiegen: Eine große Bevölkerungsgruppe hat ohne Schulabschluss die Schule verlassen oder hat erst gar keine besucht. Auf fast jeden elften Einwohner trifft das zu. In 13 der 22 kreisfreien Städte liegt der Anteil der Menschen ohne Abschluss bei mehr als zwölf Prozent, gar 16 Prozent sind es in Duisburg.
Neben dem Ruhrgebiet sind auch der Niederrhein mit Mönchengladbach und Krefeld sowie das Bergische Land mit Wuppertal, Solingen und Remscheid vertreten. Bei diesen Städten handelt es sich um vormalige Industriestädte, die heute mit Strukturproblemen zu kämpfen haben.
Das deckt sich mit Forschungsergebnissen der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, die in ihrem "Disparitätenbericht 2023" die Lebensverhältnisse in Deutschland untersucht hat. Für die erwähnten Städte mit vielen Menschen ohne Schulabschluss haben die Forschenden besonders hohe Zahlen zu Kinderarmut und Altersarmut sowie niedrige Gehälter festgestellt.
Was sich seit dem Zensus 2011 getan hat
Wie hat sich das Bildungsniveau seit den 2010er Jahren regional verändert? In ganz NRW ist die Zahl von Menschen ohne Schulabschluss gestiegen, am deutlichsten aber in jenen Städten, in denen sie ohnehin schon hoch war. In Krefeld und Mönchengladbach hat sich die Gruppe der Einwohner ohne Schulabschluss anteilig fast verdoppelt.
Die Zensusdaten deuten darauf hin, dass sich Bildungsunterschiede verstärken. Denn auch die Abitur-Quoten sind in allen Kreisen und kreisfreien Städten seit 2011 in die Höhe geschnellt. Dennoch holen einige Kreise und Städte mit weniger hoch gebildeten Einwohnern auf.
In Bonn, Bielefeld und Münster leben viele Menschen mit Abitur, aber seit 2011 sind prozentual mit am wenigsten in NRW hinzugekommen. Dagegen gibt es in Gelsenkirchen, Duisburg oder Essen etwa zehn Prozent mehr Einwohner mit hohem Schulabschluss - ein ähnlich großer Anstieg wie in Köln oder Düsseldorf.
Unsere Quellen:
- Zensus 2022 – Statistisches Bundesamt
- Zensus 2011 – Statistisches Bundesamt
- Disparitätenbericht 2023 – Friedrich-Ebert-Stiftung
- Chancenmonitor – ifo-Institut
- Gehaltsreport 2024 – Stepstone