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Sean Shepherd. Amerikanische Komponist

Werkeinführung: Sean Shepherd - Melt für Orchester

Von Anja Renczikowski

Man kennt die Bilder von schmelzenden Gletschern, wo sich das Weiß in ein rußiges Schwarz verwandelt, oder von Eisbären, denen das Eis regelrecht unter den Pranken wegschmilzt. Der amerikanische Komponist Sean Shepherd ist inmitten der beeindruckenden Naturlandschaft seiner Heimat Nevada aufgewachsen und erlebt die Zeichen des Klimawandels quasi direkt vor seiner Haustür. Seine Komposition "Melt" aus dem Jahr 2018 beschreibt er als ein "einfaches Lamento eines ohnmächtigen Beobachters".

Weltweit verlieren wir derzeit rund drei Mal das verbleibende Gletschervolumen der Europäischen Alpen. Und das jedes Jahr. Solche Daten sammelt seit über 120 Jahren der World Glacier Monitoring Service, ein weltweiter Gletscher-Überwachungsdienst. Aufgrund dieser Beobachtungen schätzt die Umweltorganisation United Nations Environment Programme, dass der Eisverlust seit 1980 bei fast 12 Metern pro Gletscher liegt. Gletscher sind eine Art Fieberthermometer des Weltklimas. Egal, ob in den Alpen oder im Himalaya oder in den USA – die Gletscherschmelze zeigt sich überall.

Gedanken von Cristian Măcelaru zu Shepherds Melt

Gedanken von Cristian Măcelaru zu Shepherds Melt

Sean Shepherd erschafft in "Melt" – ähnlich wie Ravel – durch die Orchestrierung mit einzigartigen Instrumentenkombinationen eine äußerst persönliche Welt. In dieser Welt wird uns die Geschichte eines Wassertropfens erzählt, der seinen Lebenszyklus von einem gefrorenen Gletscher bis ins Meerwasser durchläuft und schließlich verdunstet. In der Musik enthalten ist zugleich der Subtext, wie sich diese verschiedenen Zustände auf unser eigenes Leben auswirken. Damit tritt in Shepherds Werk eine hintergründige Dimension hinzu. Shepherd will uns inspirieren, über die Fragilität des Lebens und die uns umgebenden schnellen Veränderungen nachzudenken.

Für mich wirft das Ende von "Melt" eine sehr interessante Frage auf, deren Antwort eine doppelte Bedeutung hat. Einerseits lässt Sean elf Glockenschläge erklingen, die jeweils einen der noch verbliebenen Gletscher im Grand Teton National Park symbolisieren, die leider während unserer Lebzeiten schmelzen werden. Die damit verbundene Tragödie kann ein Grund für Verzweiflung sein. Andererseits – wie wir aus den vielen Geschichten wissen, die uns erzählt wurden – deuten die elf Glockenschläge an, dass es "kurz vor zwölf" ist. Uns bleibt die Hoffnung auf notwendige Veränderungen, die das Schlagen der letzten Stunde verhindern.

Sean Shepherd, den die New York Times als einen der "interessantesten Komponisten der neuen Generation in Amerika" bezeichnete, ist in Reno, Nevada, aufgewachsen. Er kennt die Welt der Gletscher in den Nachbarstaaten seit seiner Kindheit. Allein elf Gletscher gibt es noch im Grand Teton National Park in Wyoming. Die Ohnmacht, die Shepherd durch den Gletscherschwund empfindet, mögen viele teilen angesichts des drohenden Untergangs dieser Naturphänomene. Beim Grand Teton Music Festival in Jackson Hole wurde "Melt" im vergangenen Jahr uraufgeführt – ganz in der Nähe von den Orten und Gletschern, die schon die ersten Umweltschützer der USA zu Beginn des letzten Jahrhunderts für schützenswert hielten, erläutert Sean Shepherd.

Seine einsätzige Komposition, die Cristian Măcelaru gewidmet ist, hat vier eigens betitelte Teile: "Frozen" (Gefroren), "Drowning" (Ertrinken), "Liquid" (Flüssig) und "Final" (Finale). Die Musik ist Ausdruck seiner Betroffenheit: "Ich bin überrascht über die Agonie, die ich angesichts der Schmelze empfinde, aber wenn ich über die Tragödie nachdenke, die direkt vor unseren Augen passiert, dann habe ich das Gefühl: Alles, was ich tun kann, ist, meinen Kopf zu senken und in Tränen auszubrechen."