Artikel 10 des Grundgesetzes hat eine lange Vorgeschichte. In Deutschland wurde das Briefgeheimnis schon vor mehr als drei Jahrhunderten gewährleistet. Zuerst 1690 und dann detaillierter 1712, in der allgemeinen Preußischen Postordnung. Die angedrohten Strafen waren drakonisch: Wer dagegen verstieß, wurde mit Schlägen oder mit Landesverweisung bestraft.
In Frankreich hatten neugierige Postbeamte gar die Todesstrafe zu befürchten. Die französische Nationalversammlung nahm als erste das Briefgeheimnis in die Liste der Grundrechte auf. Offensichtlich glaubten die frühen Aufklärer, ein gewisser persönlicher Freiraum müsse unter allen Umständen unverletzlich bleiben. Die Wahrung eines solchen Intimbereichs garantiere, dachten sie, die Entfaltung des Menschen in seiner ganzen Eigenwilligkeit – und damit seine Würde.
Jeder Geheimdienst, jeder Großkonzern und jeder Hacker wird zur allmächtigen Postbehörde
Lange Zeit war es vergleichsweise einfach, diese Freiheit zu schützen. Solange Fremde oder der Staat keinen Zugang zu den eigenen vier Wänden hatten und das Briefgeheimnis galt, besaß der Einzelne ein unverletzliches Zuhause, eine geschützte Privatsphäre. Doch all das hat sich im digitalen Zeitalter geändert.
Inzwischen spielt die Privatsphäre beim Kampf um Bürgerrechte eine zweitrangige Rolle und nicht wenige sprechen gar vom Ende der menschlichen Intimsphäre. Wenn E-Mails, SMS und Telefonate, wenn das individuelle Surfverhalten relativ leicht abgefangen und gespeichert werden können, wird jeder Geheimdienst, jeder Großkonzern und jeder Hacker zu seiner eigenen allmächtigen Postbehörde, die nach eigenem Gutdünken Einsicht nehmen, den Inhalt auswerten und für die jeweiligen repressiven, ökonomischen, oder politischen Zwecke nutzen kann.
Die Privatsphäre wird geopfert
Inzwischen dürfte Artikel 10 vielen Beamten und Bürgern nur noch ein müdes Lächeln entlocken. Ach, wie kurios waren doch die alten Zeiten, wie ein wunderlich hübsches Idyllgemälde – charmant zu betrachten, aber gänzlich weltfremd. Seit Jahren wird dieser Artikel allmählich entkernt; stets mit Argumenten der praktischen Notwendigkeit. Der Staat müsse angesichts terroristischer Bedrohung wehrhaft bleiben, heißt es einerseits. Andererseits fehlt es an dem politischen Mut, dem zynischen Treiben der Großkonzerne strenge Grenzen zu setzen.
Die Privatsphäre wird geopfert. Als Kollateralschaden beim langen Marsch des technologischen Fortschritts, beim ewigen Krieg gegen die Feinde der Freiheit. Was übersehen wird, ist die Weisheit der Aufklärer, der Revolutionäre, der Väter und Mütter des Grundgesetzes. Neben der Unverletzlichkeit des Körpers muss auch die Unverletzlichkeit des Geistes garantiert sein.
Wenn wir der Macht und dem Kapital erlauben, all das, was wir äußern, abzuhören, aufzunehmen, zu speichern und zu analysieren, erlauben wir ihnen, unser Denken selbst zu manipulieren. Denn anhand der Profile unserer Neigungen und Interessen kann inzwischen erschreckend genau der Mensch hinter seiner Kommunikation gekennzeichnet und sein Verhalten nicht nur kontrolliert, sondern auch gelenkt werden.
Am Ende stirbt nicht nur die Freiheit, sondern auch die Vielfalt. Es wird höchste Zeit, den Sinn und Zweck von Artikel 10 in Erinnerung zu rufen und auf den digitalen Gesellschaftsraum zu übertragen.