Die ersten neun Jahre im Leben der Judith Kerr sind ruhig und behütet. Sie lebt mit ihrem älteren Bruder Michael und ihren Eltern in einem großen Haus in Berlin-Grunewald. Ihr Vater Alfred Kerr ist ein bekannter Theaterkritiker. Die Mutter Julia ist Komponistin.
Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Januar 1933 wird die Situation für Juden wie die Kerrs immer bedrohlicher. Alfred Kerr muss fliehen. Seine Frau löst kurz darauf den Berliner Haushalt auf. Mit dem Zug fahren Mutter und Kinder Richtung Schweiz, wo der Vater wartet.
Flucht, Not und ein neues Zuhause
Die Nazis verbrennen Alfred Kerrs Bücher und setzen ein Kopfgeld auf ihn aus. In der Schweiz sind sind die Kerrs erstmal sicher. Sie wohnen in einem Dorf am Zürichsee. Von der Schweiz geht die Flucht weiter nach Paris. Für die Eltern ist das Leben hart: Weil der Vater durch die Wirtschaftskrise immer weniger Aufträge bekommt, geraten sie in finanzielle Not. Judiths Mutter möchte nach England. Die Kerrs packen erneut und erreichen im März 1936 London.
Judith Kerr findet mit London ein Zuhause. Die passionierte Zeichnerin bekommt im September 1945 ein Stipendium und arbeitet danach als Zeichenlehrerin in einer Schule gegenüber der BBC. Als eine Freundin sie zum Lunch in die Kantine des Senders mitnimmt, begegnet sie dem Autoren Tom Kneale, ihrem späteren Ehemann.
Kerr wird zur Bestseller-Autorin
Wie Tom landet auch Judith Kerr bei der BBC und lektoriert im Nachkriegs-England eingesandte Manuskripte für Fernsehformate. Ihre Leidenschaft aber bleibt das Zeichnen. Sie veröffentlicht 1968 ein Bilderbuch, das zum Kinderbuchklassiker wird: "Ein Tiger kommt zum Tee". Das Werk wird mit fünf Millionen verkauften Exemplaren ein Riesenerfolg. Ab jetzt kann sie vom Zeichnen leben.
Mit Ende 40 verspürt Kerr den Wunsch, die Erlebnisse ihrer Flucht aufzuschreiben: "Ich wollte das für meine Kinder schreiben, wie das damals war, und auch an meine Eltern zu erinnern. Meine Kinder haben sie kaum gekannt." Sie wagt sich an ihren ersten Roman, beginnt mit der Arbeit an dem Buch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl". 1971 erscheint "When Hitler Stole Pink Rabbit" zunächst auf Englisch.
Das Buch wird zum Bestseller, gewinnt in der Bundesrepublik den Jugendbuchpreis und wird zur Pflichtlektüre an deutschen Schulen. Das "Rosa Kaninchen" beginnt mit der Flucht 1933 aus Berlin und endet, als die Familie 1936 London erreicht. Besonders ist der Ton des Buches. Obwohl es von Flucht, Heimatlosigkeit und existentiellen Sorgen erzählt, ist die Grundstimmung positiv, weil wir Leser durch die Augen Annas, wie Judith Kerr sich im Roman nennt, alles miterleben. Kerr schreibt zwei Fortsetzungen.
Viele weitere Bücher folgen. Zu ihrem 90. Geburtstag erfüllt sich Judith Kerr einen großen Wunsch. Sie bringt ihre Autobiografie heraus. Das Buch widmet sie "den eineinhalb Millionen jüdischen Kindern mit all ihren ungemalten Bildern, die nicht so viel Glück hatten wie ich". Am 22. Mai 2019 stirbt Judith Kerr mit 95 Jahren in London.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Andrea Klasen
Redaktion: Gesa Rünker
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 14. Juni 2023 an Judith Kerr. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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