Stichtag

27. Juni 1880 - Gehörlos-blinde Autorin Helen Keller wird geboren

"Es war nicht Nacht, es war nicht Tag", schreibt Helen Keller 1905 in ihrem ersten Buch 'The Story of My Life'. Gerade hat sie am Radcliffe College der Bostoner Harvard Universität "cum laude" ihr Sprach- und Literaturstudium beendet. Nun, mit fünfundzwanzig, ist sie der erste gehörlos-blinde Mensch der Welt mit einer abgeschlossenen Hochschulausbildung. Sieben Sprachen beherrscht sie fließend.

Als gesundes Mädchen ist Helen Keller am 27. Juni 1880 in Tuscumbia im US-Bundesstaat Alabama zur Welt gekommen. Doch mit 19 Monaten verliert sie durch eine Gehirnhautentzündung ihr Hör- und Sehvermögen. Sprachlos, eingeschlossen in sich selbst, durchlebt Helen ihre ersten Jahre. Ihre Welt: Ein schwarzer stummer Raum, dem sie nicht entkommen kann, so sehr sie sich auch dagegen auflehnt.

Jedes Ding hat einen Namen

"Ich war ein wildes, zerstörerisches kleines Tier", erinnert sich Helen Keller später an diese totale Isolation. Unberechenbar, von vielen für schwachsinnig gehalten, tobt sie durch ihr Elternhaus, reißt um, was ihr im Weg ist und stößt gellende Schreie aus. "In der stillen, dunklen Welt, in der ich lebte, war für starke Zuneigung oder Zärtlichkeit kein Raum." Vater und Mutter lassen sie gewähren, so viel Porzellan die Kleine auch zerschlägt. Kurz vor ihrem siebten Geburtstag, am 3. März 1887, engagieren die Eltern eine Blindenlehrerin - für Helen Keller "der wichtigste Tag meines Lebens."

Anne Sullivan, eine 21-jährige Irin und selbst fast blind, öffnet Helen Keller die Tür zur Außenwelt. Zuerst bringt sie ihrer gehörlosen Schülerin das Buchstabieren mit den Fingern in der Handfläche bei. Helen lernt rasend schnell. Mit unermüdlicher Wissbegierde prägt sie sich Wörter ein und beginnt, die für sie unsichtbare Welt zu begreifen. Als Anne Sullivan bei einem Spaziergang Wasser über ihre Hand fließen lässt und ihr dabei "Wasser" in die Hand buchstabiert, fängt Helen an zu erfassen, dass "jedes Ding einen Namen hat". 38 Jahre lang, bis zu ihrem Tod 1936, wird Anne Sullivan immer an Helen Kellers Seite bleiben.

Kriegsgegnerin und Sozialistin

Durch die von Louis Braille entwickelte Blindenschrift entdeckt Helen Keller den unendlichen Kosmos der Literatur und ihr Ziel zu studieren. Die Aufnahmeprüfung am Elite-College Radcliffe wird für sie zur Qual, denn man gestattet Anne Sullivan nicht, ihr in die Hand zu schreiben. Helen muss alle Fragen selbst lesen, was sich in der Mathematik mit all ihren Formeln und Zeichen als äußerst kompliziert erweist. Doch die hoch intelligente junge Frau meistert auch diese Hürde. Nur verständlich sprechen zu lernen gelingt Helen Keller nicht. Im hohen Alter wird sie das als größte Enttäuschung ihres Lebens bezeichnen.

Ihr Studienabschluss macht weltweit Schlagzeilen und gibt Millionen Menschen, die ihr Schicksal teilen, neuen Lebensmut. Helen Keller wird Inspektorin der Blinden- und Gehörloseninstitute in den USA und gründet ein eigenes Hilfskomitee. Als überzeugte Kriegsgegnerin tritt sie in die Sozialistische Partei Amerikas (SPA) ein und macht sich für die Rechte der Schwarzen stark. Sie schreibt zahlreiche Bücher und Essays über ihren Weg aus der Dunkelheit, tritt in TV-Shows auf und hält Jahrzehnte lang auf der ganzen Welt Vorträge. Könige und Staatsmänner empfangen die vor Leben sprühende Vorkämpferin einer besseren Ausbildung für Blinde und Gehörlose. Mit Auszeichnungen und Ehrendoktortiteln überhäuft, stirbt Helen Keller am 1. Juni 1968 im Alter von fast 88 Jahren.

Stand: 27.06.2015

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