Straßenszene im Warschauer Ghetto

Stichtag

16. November 1940 - Warschauer Ghetto wird völlig abgeriegelt

Als die Deutsche Wehrmacht im Herbst 1939 Polen überfällt, leben dort rund 3,3 Millionen Juden. Die Besatzer zwingen sie, den Davidstern zu tragen, beschlagnahmen ihren Besitz und pferchen sie in 400 Ghettos. Das Größte davon wird in Warschau errichtet. Am 2. Oktober 1940 unterzeichnet der Gouverneur des Distrikts Warschau, Ludwig Fischer, eine Verordnung zur Abgrenzung eines "jüdischen Wohnbezirks" mit genauer Festlegung der dazugehörigen Straßen. 14 Tage später befiehlt er allen Warschauer Juden, dorthin umzuziehen. Bald drängen sich rund 450.000 Menschen auf vier Quadratkilometern.

Derweil müssen jüdische Arbeiter um das Gelände mitten in der Stadt eine 3,5 Meter hohe Mauer ziehen. Nur einige Straßen bleiben vorläufig geöffnet. Am 16. November 1940 wird das 73 Straßenzüge umfassende Ghetto schließlich vollständig abgeriegelt und bewacht. Bei unerlaubtem Verlassen droht die Todesstrafe. "Das Leben im Ghetto war vor allem gekennzeichnet durch eine ungeheure Enge", erinnert sich Marcel Reich-Ranicki, der als junger Mann aus Deutschland nach Polen deportiert wird. "Die hygienischen Lebensbedingungen waren fatal." TBC, Typhus und Fleckfieber breiten sich aus. Hunger ist allgegenwärtig. Am Straßenrand betteln Kinder mit aufgeblähten Bäuchen. Jeden Morgen liegen hunderte Leichen vor den Türen und werden in Massengräbern beerdigt. Die Situation schlägt sich in einer Redensart der Ghetto-Bewohner nieder: "Das Heute ist schlimmer als das Gestern - aber immer noch besser als das Morgen."

KdF-Bustouren durch das Ghetto

Doch selbst unter diesen Bedingungen versuchen die Menschen, ihre Würde zu bewahren. Selbsthilfeorganisationen verteilen eingeschmuggeltes Essen. Geheime Schulen, Theater und Cabarets entstehen. Ein Sinfonieorchester spielt Werke der Komponisten Ludwig van Beethoven und Johannes Brahms. Dokumentiert werden diese Aktivitäten im Untergrund-Archiv von Emanuel Ringelblum, für das auch Reich-Ranicki tätig ist. Für die deutschen Besatzer wird Europas größtes Ghetto zu einer Touristen-Attraktion. Die Nazi-Organisation "Kraft durch Freude" (KdF) bietet Bustouren an. "Natürlich wurde das genutzt, das wollten die Deutschen sehen", sagt Stephan Lehnstaedt vom Deutsch Historischen Institut in Warschau.

Die deutsche Führung sieht das Ghetto allerdings nur als Zwischenstation. Im 500 Kilometer entfernten Berlin ist die "Endlösung" längst beschlossen. Ins Ghetto gelangen Berichte von Massenerschießungen im Osten und Experimenten, polnische Juden mit Lkw-Abgasen umzubringen. Keiner habe daran geglaubt, erinnert sich Reich-Ranicki. "Man hielt es für völlig ausgeschlossen, für Gräuelmärchen, unvorstellbar, dass man Menschen vergasen könnte." Aber das ist ein Irrtum. Ab Juli 1942 werden sieben Wochen lang fast 300.000 Menschen aus dem Warschauer Ghetto in das rund 80 Kilometer entfernte Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort vergast.

750 Ghetto-Kämpfer gegen 2.000 SS-Männer

Im Ghetto bleiben 35.000 meist junge Menschen zurück, die offiziell für deutsche Betriebe arbeiten. Zusätzlich gibt es rund 25.000 untergetauchte Bewohner, die sich vor den Deportationen verstecken konnten. Angesichts ihrer nur aufgeschobenen Vernichtung entschließen sich immer mehr von ihnen zum Widerstand: Lieber im Kampf sterben als vergast werden. Dass Juden sich wehren, ist für die Besatzer unvorstellbar. Als am 19. April 1943 das Ghetto endgültig geräumt werden soll, werden die SS-Kolonnen vollkommen überrascht. "Die jüdischen Aufständischen beschossen Panzer und Fahrzeuge und bewarfen sie mit Molotow-Cocktails", notiert Generalmajor Jürgen Stroop. "Im Verlauf einer halben Stunde waren unsere Einheiten zerschlagen und demoralisiert."

Fast drei Wochen verteidigen sich etwa 750 jüdische Kämpfer mit Pistolen und Handgranaten erfolgreich gegen rund 2.000 SS-Männer mit Panzern, Flammenwerfern und Luftunterstützung. Nur unter hohen Verlusten gelingt es der SS, den Widerstand zu brechen. Stroop lässt das gesamte Ghetto systematisch zerstören. Wenige Tage vor seinem Tod schreibt der 23-jährige Mordechaj Anielewicz, Anführer des Aufstands: "Was wir erlebt haben, lässt sich nicht mit Worten beschreiben: Zwei Mal zwangen wir die Deutschen, das Ghetto fluchtartig zu verlassen. Der Traum meines Lebens ist jedenfalls schon in Erfüllung gegangen - denn das Ghetto verteidigt sich selbst." Nur etwa 60 Ghetto-Kämpfer und wenige hundert andere Juden haben sich - meist durch die Kanalisation - in den "arischen" Teil der Stadt retten können. Marcel Reich-Ranicki konnte schon einige Monate vor dem Aufstand dort untertauchen.

Stand: 16.11.2015

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