Als Josef Stalin stirbt, gilt er in der Sowjetunion als gottähnliche Lichtgestalt. Seine Beisetzung im Mausoleum am Roten Platz in Moskau wird am 9. März 1953 im Radio übertragen. "Das Sowjetvolk nimmt Abschied von seinem großen Führer und Lehrer, dem geliebten Stalin", kommentiert ein Reporter. Kein Thema sind die Schattenseiten des Vaters der Supermacht UdSSR und des Siegers über den Faschismus. Der Verstorbene ließ Millionen von Bauern verhungern, schickte Millionen Menschen willkürlich in den Gulag und fällte im Zweiten Weltkrieg Fehlentscheidungen, die Millionen von Rotarmisten das Leben kosteten.
Erst drei Jahre nach Stalins Tod kommt die Wende. Der Moskauer Parteichef Nikita Chruschtschow wird zwar schon am 13. September 1953 zum Generalsekretär der KPdSU gewählt, doch der Mythos seines Vorgängers lebt zunächst dennoch weiter. "Aller Ruhm der Welt wird Stalin heißen. Lasst uns den ewig Lebenden lobpreisen", verherrlicht etwa der Schriftsteller und spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher den verstorbenen Diktator in seinem Gedicht "Dem ewig Lebenden".
Abrechnung schockiert Delegierte
Auf dem 20. Parteitag der KPdSU wagt es Chruschtschow schließlich, das Denkmal ins Wanken zu bringen. Bei der Eröffnung am 14. Februar 1956 nennt er in seinem Rechenschaftsbericht Stalins Namen nur einmal: Er distanziert sich von dessen These, es gebe "eine verhängnisvolle Unvermeidbarkeit der Kriege". Doch das war nur der Anfang. Chruschtschow beendet den Parteitag am 25. Februar 1956 mit einer Geheimrede. Als die ausländischen Delegationen bereits abgereist sind, werden die sowjetischen Delegierten noch einmal zusammengerufen.
Zu Beginn seiner Rede zitiert Chruschtschow warnende Äußerungen von Parteigründer Lenin: Dieser habe Stalin völlig richtig charakterisiert, als er erklärt habe, Stalin sei "äußerst grob" und launenhaft. Chruschtschow kritisiert den Personenkult um Stalin, die von ihm befohlenen Säuberungen sowie den von ihm verwendeten Ausdruck "Feind des Volkes": "Dieser Terminus ermöglichte die Anwendung der schrecklichsten Unterdrückung, die alle Formen revolutionärer Gesetzmäßigkeit verletzte; davon betroffen wurden alle, die in irgendeiner Weise mit Stalin nicht einverstanden waren." Viele Delegierte sind geschockt. Sie reagieren mit Tränen, Verzweiflung und Wut.
Heimliche Entzauberung
Auf dem Parteitag vermeidet es Chruschtschow, seine eigene Verwicklung in Stalins Terror zu benennen. Dabei war er in den 1930er Jahren nicht zimperlich gewesen. Aus Anlass eines Schauprozesses gegen in Ungnade gefallene Parteigenossen sagte Chruschtschow 1936: "Wir müssen nicht nur dieses Gesindel erschießen, sondern auch Trotzki." Später genehmigte er als Parteivorsitzender der Ukraine offenbar tausende Verhaftungen von Parteifunktionären.
Während die Geheimrede im Juni 1956 in der "New York Times" veröffentlicht wird, verschweigen die Medien in der Sowjetunion die 43 Seiten lange Abrechnung. Sie wird jedoch als rotes Heftchen gedruckt. Funktionäre müssen den Empfang quittieren, ihren Kollektiven den Text vorlesen und danach das Heft sofort wieder abgeben. Stalins Entzauberung erfolgt heimlich. Sein Todestag wird plötzlich nicht mehr gefeiert, Stalingrad wird in Wolgograd umbenannt, Stalin-Büsten werden entsorgt. Sogar sein Leichnam wird aus dem Mausoleum entfernt und in ein Grab außerhalb der Kremlmauer verfrachtet.
Chruschtschow lässt zudem die Gulags öffnen. Millionen Verschleppte kehren nach Hause zurück. Es beginnt eine Tauwetter-Periode mit einigen Reformen. Dabei geht es aber nicht um eine Demokratisierung der Sowjetunion, sondern um die Rückkehr zu "Leninschen Prinzipien". Das bekommen auch jene Demonstranten zu spüren, die im Oktober 1956 demokratische Freiheiten und die Unabhängigkeit des Landes fordern: Chruschtschow lässt den Volksaufstand mit russischen Panzern niederschlagen.
Stand: 14.02.2016
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