Schwoofen gehen, das sagt der Ur-Berliner, wenn er tanzen geht. Und beim Schwoof tanzt jeder mit jedem, egal welches Alter, welcher Beruf oder welche Konfektionsgröße. Ursprungsort dieser schönen Tradition ist ein bestimmtes Lokal: Clärchens Ballhaus, eröffnet am 13. September 1913.
"Das Ballhaus ist eine besondere Form: Es ist eine Mischung aus Stammkneipe und Tanzlokal", sagt Marion Kiesow, die Führungen zum Thema in Berlin anbietet. Ein Ballhaus sei das Beste aus beiden Welten: "Man trinkt nicht nur einen Schnaps am Tresen, sondern wagt gleich noch ein Tänzchen mit den Frauen."
Clärchen ist die Chefin
1913 wird das Lokal nicht als "Clärchens", sondern als "Bühlers Ballhaus" gegründet. "Fritz Bühler war derjenige, der auf dem Papier stand. Aber die Leute haben schnell kapiert: Clärchen, seine Frau, ist die Chefin", sagt Marion Kiesow.
Eine Schönheit ist Clara Bühler nicht, dafür zupackend. Das muss sie auch sein, denn 318 Tage nach Gründung des Ballhauses beginnt der Erste Weltkrieg. Das bedeutet Armut, Hunger und Männermangel. "Nach dem Krieg gab es viele Witwen, und die durften zu den Bällen am Abend nicht ohne männliche Begleitung gehen", sagt Marion Kiesow.
Clärchen spürt: Das ist eine Gefahr fürs Geschäft und hat die Idee, einen Witwenball anzubieten. Die Frauen kommen allein und frühere Offiziere springen als Ersatztänzer ein, tanzen Tango oder Walzer. Das Format spricht sich auch bei verheirateten Frauen herum.
"Hier hat sich eine Geschichte der Frauen, der Emanzipation abgespielt", sagt Kiesow. Frauen sind es, die das Ballhaus durch zwei Diktaturen führen. Clärchen stemmt sich gegen die von den Nationalsozialisten gewünschten Volkstänze. Und ihre Nachfolgerin, Stieftochter Elfriede, muss feststellen: Auch in der DDR sind Westimporte wie Swing und Rock'n'Roll verpönt.
"Man hat immer aufgepasst. Wenn die Polizei kam, dann gab man ein Zeichen und hat etwas anderes getanzt", erinnert sich Siggi Markwart, Swing-Tänzer und mit 78 Jahren ein Ballhaus-Urgestein.
Das bunteste Publikum der Stadt
Bei Clärchen tanzt bis heute das bunteste Publikum der Stadt, vom Studenten bis zur Rentnerin. Abend für Abend entsteht eine gesellschaftliche Utopie: Menschen, die auf Facebook nicht befreundet sind und sich auf Tinder niemals begegnen würden, verbringen Zeit zusammen.
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