"Bare necessities", so nennt man im Englischen das Allernotwendigste, das man zum Leben braucht. Balu, der gutmütige Bär aus dem "Dschungelbuch", versteht darunter eher "bear necessities": alles für sorglosen All-inclusive-Genuss mitten im Dschungel. In der deutschen Synchronisation des Walt-Disney-Klassikers von 1967 wird aus dem unübersetzbaren Wortspiel ein generationsübergreifender Evergreen: "Probier's mal mit Gemütlichkeit".
Balus Bohemien-Weisheiten stammen aus der Feder von Synchronregisseur Heinrich Riethmüller. "Dalli Dalli"-Fans kennen ihn aus den 80er Jahren als Bandleader des TV-Kultquiz' von Hans Rosenthal. Der am 23. Dezember 1921 geborene Berliner hat Kirchenmusik studiert und zunächst als Organist und Chorleiter gearbeitet. Sein Talent für die populäre Musik entdeckt er erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Der richtige Mann für "Mary Poppins"
Im Rundfunk des zerstörten Berlin wird Heinrich Riethmüller als der Mann an der Hammond-Orgel bekannt. Mit träumerischen Melodien entführt er die Hörer aus ihrer Nachkriegstristesse. Er spielt im Radio Berlin Tanzorchester und übernimmt die musikalische Leitung des Kabaretts "Ulenspiegel". 1951 begleitet Riethmüller die achtjährige Conny Froboess bei ihrem Riesenhit "Pack die Badehose ein" auf der Orgel. Der vielseitige "Gebrauchsmusiker" komponiert in Serie Heimatfilm-Melodien und eingängige Titel für Radiosendungen.
Beim Sender Rias lernt Riethmüller den umtriebigen Unterhaltungschef Hans Rosenthal kennen. Fast 30 Jahre lang bleiben die beiden ausgemachten Perfektionisten ein Team. Riethmüller komponiert nahezu alle Titelmusiken zu Rosenthals Radio- und Fernsehshows, von "Spaß muss sein", "Gut gefragt ist halb gewonnen" und "Allein gegen alle" bis zum ZDF-Dauerbrenner "Dalli Dalli". Ein Showman wie seine Kollegen Paul Kuhn oder Horst Jankowski ist er nicht. Statt fingerschnipsend vor seinem Orchester zu wippen, sitzt der Arbeitsmensch Riethmüller lieber im Hintergrund am Klavier.
Hollywood aber wird auf den erfahrenen Musiker und Komponisten aufmerksam. 1964 vertrauen ihm die Walt Disney Studios die deutsche Synchron-Fassung ihres Musical-Blockbusters "Mary Poppins" an. Für den Film-Historiker Rolf Giesen eine ideale Wahl: "Riethmüller hatte eben das Gefühl, kongenial am Original dran zu sein, aber trotzdem auch den Nerv der deutschen Sprache, der Singstimmen zu finden."
Im Ruhestand zurück zur Chorarbeit
Die Disney-Verantwortlichen sind von der Arbeit des Deutschen und seinen exzellenten Sprechern so begeistert, dass sie ihm nach "Mary Poppins" die Synchronregie für "Das Dschungelbuch“ übertragen. Riethmüllers Bearbeitung mit den Ohrwürmern von Bär Balu, dem Affenkönig King Louie und Kaa, der lispelnden Schlange, gelten heute als Meisterwerk des Synchronfachs.
Allein in Deutschland sehen knapp 30 Millionen Besucher "Das Dschungelbuch" und machen es zu einem der größten Kinoerfolge aller Zeiten. Das nächste Zeichentrick-Abenteuer "Aristocats" wird ebenso von Heinrich Riethmüller eingedeutscht wie alle folgenden Disney-Kassenhits. Außerdem synchronisiert er die Klassiker "Schneewittchen", "Bambi" und "Pinocchio" neu.
Mit 60 Jahren verabschiedet sich Heinrich Riethmüller aus dem Synchronstudio. Zu seinen letzten Arbeiten gehören das Science-Fiction-Epos "Das Schwarze Loch" und der Zeichentrickfilm "Asterix erobert Rom". Als 1987 sein Freund Hans Rosenthal stirbt, scheidet er auch aus dem "Dalli Dalli"-Team aus.
Riethmüller probiert es nun selbst mit etwas mehr Gemütlichkeit. In seiner Schwarzwälder Wahlheimat Baiersbronn widmet er sich wieder seinen musikalischen Wurzeln, leitet Chöre von Kindern und Jugendlichen und schreibt Theaterstücke. Zwei Wochen vor seinem 85. Geburtstag stirbt Heinrich Riethmüller am 8. Dezember 2006 in Baiersbronn.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 23. Dezember 2016 ebenfalls an Heinrich Riethmüller. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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