Bis Mitte des 19. Jahrhunderts gehört der grelle Aufschrei des Patienten zu jeder Operation dazu. Ohne Betäubung ist der Hauteinschnitt mit furchtbaren Schmerzen verbunden. Ruhig wird es im Operationssaal allenfalls, wenn der Behandelte in Ohnmacht fällt oder im Schock stirbt - was nicht selten passiert. Nicht wenige Kranke ziehen einen langsamen Tod einer qualvollen Operation vor.
Der 16. Oktober 1846 bringt die Wende: William Thomas Morton lässt einen Patienten, dem ein Tumor entfernt werden soll, betäubende Ätherdämpfe einatmen. Auf diese Weise hat der Dentist einige Tage zuvor einen Zahn gezogen, ohne dass der Behandelte etwas spürte. Die Idee hat Morton vom Jahrmarkt, wo sich Menschen am Äther berauschen und dabei kleinere Verletzungen nicht zu spüren scheinen. Nun will er seine Entdeckung während einer Operation des angesehenen Dr. John Collins Warren am Bostoner General Hospital öffentlich zeigen.
"Das ist kein Humbug"
Dazu hat Morton eigens einen Glaskolben bauen lassen, aus dem er den Tumorpatienten atmen lässt. Dieser verdreht nach wenigen Zügen die Augen und fällt in einen Tiefschlaf. Dass es sich bei seinem Wirkstoff um Äther handelt - das jeder benutzen kann - verschleiert Morton bewusst. Er will nicht nur Menschen von Schmerz und Pein erlösen, sondern hofft auf wirtschaftlichen Erfolg. Als der erhabene Mediziner Warren schließlich das Messer zu einem tiefen Schnitt ansetzt, gibt der Kranke keinen Laut von sich. Auch während der Chirurg ihm das Geschwür am Kiefer entfernt und die Wunde vernäht, dämmert er ruhig vor sich hin.
"Gentlemen, dies ist kein Humbug" , wendet sich Warren sichtlich beeindruckt an die überraschten Zuschauer auf den Rängen. Dort wollten Ärzte und Medizinstudenten der benachbarten Harvard-Universität an diesem Herbstmorgen eigentlich einen Scharlatan bei der Arbeit entlarven. Die Ankündigung einer "schmerzfreien" Operation hatte auf ein besonderes Amüsement hoffen lassen. Schmerzfreiheit liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Noch 1836 schrieb der namhafte Pariser Chirurg Louis Valpeau: "Das schneidende Messer und der Schmerz sind der Chirurgie zwei Begriffe, mit denen der Kranke nie einzeln in Berührung kommt."
Königin Victoria entbindet unter Narkose
Den anwesenden Fachkollegen ist schnell klar, dass sie einem bedeutenden Moment der Medizingeschichte beiwohnen, in der sich der Zahnarzt Morton seinen Platz als Wegbereiter der schmerzfreien Operation sichert. Seine Narkose ermöglicht künftig Eingriffe, an die sich bislang kein Chirurg heranwagte. Chloroform und Lachgas kommen als Betäubungsmittel hinzu. Wenngleich die neuen Methoden nicht überall Anklang finden. "Die Kirche hat im Wesentlichen überliefert, dass Schmerzen auszuhalten seien", erklärt Heike Petermann, Medizinhistorikerin der Universität Münster. Viele europäische Chirurgen haben zunächst Vorbehalte gegen die Narkose, sie gilt als "typisch nordamerikanische Windbeutelei".
Erst als sich 1856 die englische Königin Victoria vor der Geburt ihres achten Kindes für eine Vollnarkose entscheidet, bekommt die Anästhesie einen entscheidenden Schub in Europa. Bald gibt es keine Operation mehr ohne Narkose, ob nun mit Äther, Chloroform oder Lachgas. Dem Mann, der mit seinem Äther die Menschen vor vielen Qualen bewahrt hat, bleibt Ruhm und Reichtum zu Lebzeiten verwehrt. William Thomas Morton stirbt nach einem jahrelangen Patentstreit 1868 verarmt in New York.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 16. Oktober 2016 ebenfalls an die erste größere Operation mit Äthernarkose. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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