Was tun? Nach dem Ende des Deutschen Herbstes ist die bundesdeutsche Linke paralysiert. Die RAF-"Offensive" von 1977 endete zuvor mit dem Mord an Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und den toten RAF--Mitgliedern in Stammheim. Der Staat hatte mit Rasterfahndung und Härte gegen Sympathisanten reagiert. Wer die Gesellschaft kritisiert, ist nun in der Defensive.
Fünf Berliner Studenten, undogmatische Linke und "Spontis", wollen einen Kongress organisieren. "Uns langt's jetzt hier", heißt es in ihrem Aufruf. "Sie haben uns genug kommandiert, die Gedanken kontrolliert, die Ideen, die Wohnung, die Pässe, die Fresse poliert. Wir lassen uns nicht mehr einmachen und kleinmachen und gleichmachen!"
"Woodstock in Räumen"
Die Studenten streuen die Einladung über viele Kanäle. Über einen Umweg gibt es Kontakt zum französischen Philosophen Jean Paul Sartre. Dieser schreibt an den Rektor der Technischen Universität Berlin. Damit steht der Ort des Treffens fest, der Kongress gibt sich die selbstironische Parole "Tunix" ("Tue nichts"). Am 27. Januar 1978 beginnt die dreitägige Veranstaltung im Audimax der Universität. Die vermeintlichen Nichts-Tuer kommen zuhauf. Statt der erhofften 2.000 bis 3.000 Teilnehmer sind es rund 25.000.
Von Anfang an ist die TU überfüllt. Wer in Plenen, Workshops und Kulturveranstaltungen will, muss über Leute in Schlafsäcken steigen. Jemand nennt es ein "Woodstock in Räumen".
"Modell Deutschland" im Dreck
Am Rand des Kongresses findet eine Demonstration statt, bei der eine Fahne mit der Aufschrift "Modell Deutschland" durch den Dreck geschleift wird - eine Anspielung auf den SPD-Wahlkampfslogan unter Helmut Schmidt.
Der damalige Berliner CDU-Vorsitzende Eberhard Diepgen kritisiert, dass der SPD-Senat "Tunix" nicht verboten hat: "Es war ein Treffen von jenen - und jetzt zitiere ich - 'die schon die Unterwanderstiefel geschnürt haben'. 'Macht kaputt, was euch kaputt macht' war eine der ständig wiederkehrenden Parolen!"
Keimzelle der Alternativbewegung
Doch bei "Tunix" geht es ums Aufbauen. Projekte werden vorgestellt und diskutiert: Stadtzeitungen, Buchläden, Kneipen, Kinderläden, Tischlereien, Landkommunen. Der Kongress wird zur Keimzelle der Autonomen- und Alternativbewegung, zur Initialzündung für die selbstverwaltete linke Tageszeitung "Taz" und für die Grüne Partei.
Die Projekte haben einen doppelten Anspruch: Sich selbst einen Platz außerhalb des Systems zu schaffen - und das System mit besserem Beispiel zu verändern.
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 27. Januar 2018 ebenfalls an den Beginn des Tunix-Kongresses. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 28.01.2018: Vor 10 Jahren: SEPA-System im Zahlungsverkehr eingeführt