Inuitgeneration (Kind, Mutter und Großmutter) in Nunavut, 2006

4. Mai 1992 - Grenzen des kanadischen Inuit-Territoriums Nunavut festgelegt

Stand: 04.05.2017, 00:00 Uhr

Als Justin Trudeau 2015 als neuer Premierminister vereidigt wird, betreten zwei elfjährige Mädchen die Bühne. Samantha Metcalfe und Cailyn Degrandpre sind Inuit, kanadische Eskimos. Was sie vorführen, ist ein uraltes Ritual, der "throat song", eine Art Kehl- oder Kehlkopfgesang. Der ist immer auch ein Wettstreit unter den Sängern: Wer zuerst in Lachen ausbricht, hat verloren.

Ein Land in der Polarwüste

Rund 50.000 Inuit leben in Kanada, 37.000 von ihnen in Nunavut, dem jüngsten Territorium auf der kanadischen Landkarte, fünf mal so groß wie Deutschland, hauptsächlich Polarwüste. Schon vor rund tausend Jahren zogen Menschen aus Alaska hierher, in ein Gebiet, das vom heutigen kanadischen Festland über die arktischen Inseln fast bis zum Nordpol reicht.

Nunavut – das bedeutet "unser Land" – wurde aus Teilen von Québec und den Northwest-Territories herausgeschnitten und neu zusammengesetzt. Den genauen Grenzverlauf legten die Bewohner selbst fest, in einer Abstimmung am 4. Mai 1992.

"Ich bin überwältigt von Stolz", sagte Nunavuts erster Premierminister Paul Okalik, ein Jurist, bei der Gründungszeremonie sieben Jahre später. "Wir haben die Kontrolle über unser Schicksal zurückgewonnen, jetzt werden wir wieder selbst unseren Weg bestimmen."

Niedrige Lebenserwartung und hohe Selbstmordrate

Doch seitdem sind die Probleme in Nunavut nicht kleiner geworden: Zu 90 Prozent ist die Region finanziell abhängig von der Hauptstadt Ottawa. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie im restlichen Land. Die Lebenserwartung liegt unter dem Landesdurchschnitt, die Selbstmordrate ist acht mal so hoch.

Für die ökonomische und soziale Krise der Inuit gibt es Gründe. "Man hat seit dem 19. Jahrhundert tief in ihre Kultur eingegriffen. Und ihnen wenig Möglichkeiten gegeben, sich allmählich an die kapitalistische Industriemoderne anzupassen", erklärt Michael Hochgeschwender, Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte an der Universität München.

Wie viele Indianer in den USA und Aborigines in Australien wurden auch Generationen von Inuit in Kanada brutal umerzogen. "Residential schooling" hieß das. "Kinder wurden für zehn Monate im Jahr aus ihren Familien herausgenommen und praktisch nach den Vorstellungen der Weißen erzogen", sagt Hochgeschwender.

In den staatlich finanzierten Internaten durften sie ihre eigene Sprache nicht sprechen, die eigenen Bräuche nicht pflegen. "Das ist das, was man als kulturelles Genozid bezeichnet: die Ermordung der Kultur", sagt Hochgeschwender.

Ein Leben in zwei Welten

Die letzte der berüchtigten Residential Schools in Kanada wurde erst in den 1990er-Jahren geschlossen. Ein Internat besuchen viele Inuit-Kinder trotzdem, denn nicht jede der 28 Gemeinden in Nunavut bietet eine weiterführende Schule.

Der kanadische Staat fördert heute Programme, in denen altes Inuit-Wissen und Traditionen vermittelt werden. Und manchmal gelingt das Leben in zwei Welten – aber zu einem Preis.

Samantha Metcalfe und Cailyn Degrandpre sind seit ihrem Auftritt vor Justin Trudeau in Kanada berühmt. Den Kehlkopfgesang üben sie täglich im Unterricht. Doch sie lernen ihn in einer Schule in Kanadas Süden, weit weg von Nunavut, ihrer Heimat. 

Programmtipps:

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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 4. Mai 2017 ebenfalls an die Volksabstimmung der Inuit. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.

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