Kurz vor seinem 40. Geburtstag erhält der DDR-Liedermacher Wolf Biermann überraschend ein Visum für eine Tournee durch die Bundesrepublik. Nach elf Jahren Auftrittsverbot in der DDR eine Sensation. Die IG Metall hat ihn nach Köln eingeladen, wo am 13. November 1976 das erste Konzert stattfindet. Die Kölner Sporthalle ist ausverkauft: "Als ich hörte, dass sechseinhalbtausend Leute hier sind, kriegte ich einen Bammel", sagt Biermann. "Vielleicht kommt es daher, dass ich die letzten Jahre immer im Zimmer gesungen habe."
Zwei Stunden soll der Liederabend dauern, der vom WDR-Hörfunk live übertragen wird. Er steht unter dem Motto: "Ich möchte am liebsten weg sein - und bleibe am liebsten hier." Biermann singt nicht nur, sondern nimmt auch ausführlich politisch Stellung. Er bekennt sich zu einem demokratischen Kommunismus und kritisiert die DDR, die diesem Ideal nicht entspreche: "Eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen zu einstimmig zuzustimmen." Es herrsche dort eine Diktatur - "aber nicht die Diktatur des Proletariats".
Vierstündiger Auftritt
Mit einem "Kunze-Lied" erklärt sich Biermann solidarisch mit dem Ost-Berliner Schriftsteller Reiner Kunze, der kurz zuvor aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen und so praktisch mit einem Schreibverbot belegt worden ist. "Alle Schriftsteller sind betroffen von den Repressalien gegen Kunze. Sie fühlen sich bedroht", sagt Biermann. "Kunze hat niemals faschistische Literatur verfasst. Alles, was er über die DDR geschrieben hat, ist wahr."
Statt der geplanten zwei Stunden dauert das Konzert schließlich vier. "Man hat mich so viele Jahre gebeten, nicht zu singen, dass man mich nun wieder bitten muss, mit dem Singen aufzuhören", sagt Biermann über seinen ausgedehnten Auftritt - der für ihn existenzielle Folgen hat. Drei Tage nach dem Konzert beschließt das Politbüro des Zentralkomitees der SED seine Ausbürgerung aus der DDR. Grund sei sein Programm in der Bundesrepublik, das sich gegen die DDR und den Sozialismus richte.
Protestbrief gegen Ausbürgerung
Die Reaktionen sind geteilt. In der DDR-Presse wird Biermanns Ausbürgerung bejubelt. Er habe seine staatsbürgerlichen Pflichten in grober Weise verletzt und sich seine Ausbürgerung selbst zuzuschreiben. In der Bundesrepublik ist die Empörung groß. Biermann selbst erklärt: "Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich diese schändliche und schädliche Ausbürgerung nicht hinnehme." Auch in Ost-Berlin gibt es Protest: In einem Brief fordern mehr als 100 Schriftsteller, Musiker, Künstler und Schauspieler die DDR-Führung auf, ihre Maßnahme zu überdenken. Die Unterzeichner erhalten Berufsverbote. Eine Ausreisewelle kommt in Gang. Auch Schauspieler Manfred Krug setzt sich in die Bundesrepublik ab: "Mir ist eigentlich bis dahin immer verziehen worden, wenn ich so sagen darf. Nur halt dieses Mal nicht."
Biermann findet sich rasch zurecht in der Bundesrepublik. Er kennt den Westen: Als 17-Jähriger war er 1953 von Hamburg nach Ost-Berlin übergesiedelt, "um den Sozialismus mit aufzubauen". Seiner Weltsicht bleibt er zunächst treu und wird Mitglied der spanischen KP. 1983 kommt es dann in Paris zu einer Schlüsselbegegnung mit dem Schriftsteller Manès Sperber, der sich vom Kommunisten zum Antikommunisten gewandelt hatte. "Der hat mir den kommunistischen Zahn gezogen", sagt Biermann, der seither gegen den Kommunismus kämpft, weil dieser nicht funktionieren könne.
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.
Stichtag am 14.11.2016: Vor 300 Jahren: Gottfried W. Leibniz stirbt in Hannover