Sein Gipfel liegt 8.125 Meter über dem Meeresspiegel: Der Nanga-Parbat im Himalaya ist einer der höchsten Berge der Welt. Der Südtiroler Reinhold Messner will ihn bezwingen. Er macht sich am 27. Juni 1970 um drei Uhr morgens auf den Weg - allein. 39 Tage hat er am Berg auf diese Gelegenheit gewartet. Sein Bruder Günther und der Expeditionsteilnehmer Gerhard Baur schlafen im gemeinsamen Zelt weiter. Wie vereinbart beginnen die beiden eine Stunde später bei Sonnenaufgang damit, Sicherungsseile zu spannen. Da habe Günther plötzlich gesagt: "Mensch, lass das liegen, wir gehen", erzählt Gerhard Baur später; er aber habe den Vorschlag abgelehnt. Daraufhin sei Günther seinem Bruder alleine nachgestiegen. Dadurch entsteht eine neue Lage: Die Sicherungsseile für den Abstieg sind nicht ordnungsgemäß verankert, wie Reinhold erfährt. Beide Messner-Brüder erreichen gegen 17 Uhr den Gipfel. Sie sind die ersten, denen die Besteigung auf einer extrem schwierigen Strecke gelingt - über die 4.500 Meter hohe, fast senkrecht aufragende Rupal-Wand. Soweit ist die Geschichte unbestritten. Zu dem, was danach geschieht, gibt es zwei Versionen.Laut Reinhold Messner drängt ihn der erschöpfte und höhenkranke Bruder, für den Abstieg eine Route zu wählen, die weniger kräfteraubend und gefährlich zu sein scheint: über die Diamir-Wand auf der anderen Seite des Berges. Sechs Tage später kehrt Reinhold Messner mit erfrorenen Zehen zurück - allein. Günther sei von einer Lawine mitgerissen worden, während er den Weg erkundet habe, sagt Messner. Lange wird das nicht bestritten. Bis ehemalige Expeditionsmitglieder 2002 erstmals öffentlich Zweifel äußern. Sie behaupten, Messner sei von vornherein entschlossen gewesen, als erster Mensch die Überschreitung des Nanga-Parbat zu wagen. Seinen Bruder habe er seinem Ehrgeiz geopfert. "Reinhold hat mit mir öfters darüber geredet, dass eine Überschreitung des Nanga-Parbat der nächste Schritt in der Geschichte des Alpinismus wäre", sagt Gerhard Baur.
Messner bestreitet diese Absicht: "Wenn ich den Plan gehabt hätte, hätte ich alles mitgenommen, was ich brauche." Der Abstieg sei eine Notlösung gewesen. Er habe alles getan, um seinen damals 24 Jahre alten Bruder herunter zu bringen - was ihm auch bis in die unteren Gletscherzonen gelungen sei. Im Jahr 2000 findet Reinhold Messner bei einer erneuten Expedition am Nanga-Parbat einen Menschenknochen auf der einstigen Abstiegsroute am Diamir-Gletscher. Eine DNA-Untersuchung kommt später zum Ergebnis, dass der Knochen mit großer Wahrscheinlichkeit von Günther Messners Bein stammt. Messner sieht sich von den Vorwürfen entlastet, er habe Günther nahe des Gipfels zurück und im Stich gelassen.
Stand: 27.06.05