Kinder mit Konzentrationsschwäche und ungeregelter Motorik gibt es schon lange: Der Nervenarzt Heinrich Hoffmann hat sie als "Zappelphilipp" und "Hans-guck-in-die-Luft" um 1850 in seinem "Struwwelpeter" verewigt. Was das Syndrom verursacht, ist bis heute nicht wirklich geklärt: Bis in die 60er Jahre spricht man von einer Hirnhauterkrankung, dann von MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion). Heute spricht man von ADHS, der Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung. Denn die Betroffenen sind zugleich unkonzentriert - und deshalb leistungsschwach - und überaktiv, neigen zu Aggressivität und unkontrollierten Reaktionen. Das liege an einem Mangel des Botenstoffs Dopamin im Gehirn, vermuten Forscher. Ihr stärkstes Argument: Ein Dopamin ersetzendes Medikament hilft den Kindern - Ritalin.Als Ritalin am 5. Dezember 1955 in den USA zugelassen wird, denkt noch niemand an ADHS. Der Wirkstoff Methylphenidat ist ein Amphetamin, ein Aufputschmittel. Der Stoff erhöht Konzentrationsfähigkeit und Aktivität. Weil das Mittel Hyperaktive jedoch beruhigt, halten es viele für ein Beruhigungsmittel und kritisieren, Kinder würden sediert, also ruhig gestellt. Die Forscher führen die paradoxe Wirkung des Aufputschmittels bei hyperaktiven Kindern auf deren gestörten Gehirn-Stoffwechsel zurück. Danach sind ADHS-Kranke eigentlich nicht überaktiv, sondern unterstimuliert. Mit ihrem Bewegungsdrang halten sie sich wach, sorgen für zusätzliche Reize - wie ein übermüdeter Autofahrer, der das Radio laut dreht. Ritalin hebt die Stimulans des Gehirns an, die Patienten können sich besser konzentrieren und werden ruhiger.Dennoch bleibt Ritalin umstritten: In Deutschland fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz. Es muss verschrieben werden. In Deutschland geschieht dies 50 Mal häufiger als noch vor zehn Jahren. Der rasante Anstieg der ADHS-Diagnosen kann nicht an der epidemischen Ausbreitung einer angeborenen Gehirnstörung liegen. Offenbar wird Ritalin häufig ohne eingehende Diagnose verschrieben, wenn Lehrer und Eltern nicht mehr weiter wissen. Außerdem nützt das Medikament auf Dauer nur, wenn eine Verhaltenstherapie hinzukommt, die auch das Umfeld mit einbezieht. Denn wer von ADHS betroffen ist, hat seine Umgebung schon vom Kleinkindalter an auf eine harte Probe gestellt, die dauernden Reaktionen auf ein "unmögliches Kind" erfahren und häufig wiederum entsprechende Verhaltensstörungen ausgebildet.
In den USA ist Ritalin mittlerweile zur Modedroge der Leistungsgesellschaft geworden: Schüler feiern Ritalin-Partys und verkaufen das Mittel auf dem Schulhof. Das soll laut Berichten von Lehrern auch schon in Deutschland vorkommen. Denn als Aufputschmittel wirkt es gerade bei Menschen ohne ADHS.
Stand: 05.12.05