Auf seiner Stirnseite ist der große Hörsaal der Technischen Universität Berlin mit weißem Leinen ausgeschlagen. Im Mittelpunkt der Stoffbahn thront der Bundesadler. Darunter haben Helfer den Präsidiumstisch aufgestellt, zu beiden Seiten flankiert von den Bänken für die Abgeordneten aus Bonn. Dann tritt Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) ans Rednerpult. "Der deutsche Bundestag beginnt seine Arbeit in Berlin in dem Bewusstsein, dass seit dem Jahre 1933 in dieser Stunde zum ersten Mal eine frei gewählte, legitime, oberste gesetzgebende Körperschaft des deutschen Volkes ihre Arbeit hier wieder aufnimmt." Eigentlich spricht Gerstenmaier 44 Jahre zu früh. Die endgültige Übersiedlung der Regierungsgeschäfte nach Berlin findet erst 1999 statt.Am 19. Oktober 1955 sind 470 Abgeordnete aus der vorläufigen Bundeshauptstadt Bonn für eine Woche in einen provisorischen Bundestag an der Berliner Uni gezogen. Das Reichstagsgebäude ist immer noch zerstört, deshalb ist man in den Hörsaal ausgewichen. Vor 100 Journalisten und doppelt so vielen Zuschauern wollen die Parlamentarier für die Einheit Deutschlands ein Zeichen setzen - eine symbolische Geste auch für die "Insel" West-Berlin, deren Senatoren geladen hatten. "Wir halten fest, dass der Deutsche Bundestag mit der Bundesrepublik Deutschland nur ein Provisorium ist bis zu dem Tag, an dem auch die frei gewählten Vertreter der heute noch in Unfreiheit gehaltenen 18 Millionen ein gemeinsames Parlament bilden", betont Gerstenmaier inmitten der geteilten Stadt. Im Mittelpunkt der ersten Arbeitssitzung an der Spree steht die Regierungserklärung von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard ( CDU), der, umgeben vom real existierenden Sozialismus, die Vorzüge der Marktwirtschaft preist: Steigerung der industriellen Produktion um 63 Prozent innerhalb von sieben Jahren, Anstieg der Beschäftigten um 4,3 Millionen. Im Westen geht es aufwärts, soll das heißen. Erhard will auch dem Osten den Beitritt zum Wirtschaftswunderland schmackhaft machen.
Mit im Gepäck hat Ehrhard einen frommen Wunsch. "Dass hier die Kraft lebendig ist, die die Lebensmöglichkeiten der Menschen im deutschen Osten mit dem Tage der Wiedervereinigung schnell auf das Niveau des freien Deutschland heben kann." Auch wenn der Fall der Mauer 34 Jahre später Wirklichkeit wird: Auf die Verwirklichung gleicher Lebensmöglichkeiten warten viele Ostdeutsche bis heute.
Stand: 19.10.05