1928 - zehn Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges. Es ist Frühling in Paris, als der ehemalige Feind in die Stadt einzieht. Die Deutschen sind diesmal singend und mit dem Zug nach Frankreich gekommen: rund zwei Dutzend Männer und Frauen mit ausgebeulten Kniehosen, Lodenmänteln und Rucksäcken, an denen Kochgeschirr baumelt. Vorne weg geht Hubert Tigges. Er lässt die Truppe mitten im Bois de Boulogne, dem weitläufigen Park im Pariser Westen, ein Zeltlager aufschlagen. Argwöhnische Franzosen informieren den Bürgermeister. Doch dieser begrüßt die Deutschen freudig. Er lässt ein Buffet aufbauen und Champagner servieren. Die Feier dauert die ganze Nacht.Von Kriegsgegnern zu Gästen werden - das ist der Traum von Hubert Tigges. Er wird am 20. Oktober 1895 als Arbeitersohn in Förde-Grevenbrück, einem kleinen Dorf im Sauerland, geboren. 1914 macht er als einziges von acht Kindern Abitur und zieht anschließend als Feind gegen Frankreich. 1918 kommt er als Pazifist zurück. In seinem Tagebuch schreibt er: "Es ist nicht süß und ehrenvoll für das Vaterland zu sterben. Wer das behauptet, ist ein Verbrecher!" Als überzeugter Katholik schließt er sich dem Bund "Quickborn", einer christlichen Jugendbewegung, an. Er studiert Volkswirtschaft und darf sich bald Dr. Hubert Tigges nennen. Ein Titel, auf den er sein Leben lang großen Wert legt. Er wird Dozent an den Volkshochschulen in Düsseldorf, Elberfeld-Barmen-Remscheid, Solingen und Lennep. 1925 gründet er den "Europakreis", der für ein vereintes Europa wirbt.
Um mehr Menschen für diese Idee zu begeistern, beginnt er, Reisen zu den ehemaligen Kriegsgegnern zu organisieren. Frohe Lieder, campieren in der Natur, Lagerfeuerromantik, Gruppenerlebnis: das sind Bildungsreisen mit Dr. Tigges. Jährlich werden etwa 20 Fahrten ins In- und Ausland unternommen. Die Fahrtkosten betragen 20 bis 200 Reichsmark: "Deutschland sei unsere Heimat und Europa unser Vaterland. Mit frohem Fahrtengruß, Ihr Dr. Tigges." Als die Nazis die Macht übernehmen, verliert er seinen Job als Volkshochschullehrer und macht sich selbständig. 1934 führt eine Reise erstmals nach Mallorca. Die Reiseziele liegen in ganz Europa und in Nordafrika. 1939 endet all dies: Die Nazis verbieten Auslandreisen. Tigges wird als Soldat eingezogen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt er auf Flugreisen und Badeurlaube - obwohl er nicht Schwimmen kann und Flugangst hat. Nur einmal in seinen Leben ist er geflogen - ein Rundflug über Köln, bei dem ihm übel geworden ist. Sein Motto: "Was ich erleben kann, kann ich mir zu Fuß erwandern." Bei einem seiner Spaziergänge wird Dr. Hubert Tigges im Alter von 74 Jahren in seiner Wahl-Heimatstadt Wuppertal am 11. Februar 1971 von einem Lieferwagen überfahren und getötet.
Stand: 20.10.05