Ein Bademeister, der in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) ist - eine Verwaltungssekretärin, die sich gegen den Vietnamkrieg engagiert - ein Friedhofsgärtner, der Mitglied bei Amnesty-International ist: Sie alle gelten in den 70er Jahren in der Bundesrepublik als Staatsfeinde. Beamte und Angestellte, die verdächtigt werden, gegen "die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes" zu verstoßen, können entlassen werden. Bund und Länder befragen zunächst den Verfassungsschutz, wenn sie einen neuen Mitarbeiter einstellen wollen. Bewerber für einen Job im Öffentlichen Dienst müssen sich viele Fragen gefallen lassen: "Waren Sie schon einmal in der DDR? Haben Sie als Student an politischen Versammlungen teilgenommen? Waren Sie schon einmal auf einer Feier der DKP? Haben Sie schon einmal den Begriff Imperialismus in der BRD verwendet?" Ein Ja als Antwort kann die Aussichten auf eine Beamtenlaufbahn zunichte machen.
Die Gesinnungsprüfung beginnt 1971 in Hamburg. Der Senat beschließt, es dürfe nur derjenige dem Staat dienen, der ihn nicht abschaffen wolle. Als Verfassungsfeinde verdächtigt werden jene, die schon einmal Kontakt zu radikalen politischen Gruppen gehabt haben. Auch zu solchen, die gar nicht verboten sind, sondern lediglich Kritik am Staat üben. Auf dem Höhepunkt der Fahndung nach Mitgliedern der Rote-Armee-Fraktion (RAF) ergreift die Bundesregierung flankierende Maßnahmen. Unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD), der sein Amt einst mit dem Slogan "mehr Demokratie wagen" angetreten hatte, beschließen die Regierungschefs der Länder im Januar 1972 den so genannten Radikalenerlass. Arbeitsweisen, wie sie von der Stasi in der DDR bekannt sind, gehören beim westdeutschen Verfassungsschutz nun zum Alltag. Verdächtige werden zum Teil über Jahre hinweg beobachtet.
Die Radikalenerlass sorgt für internationale Kritik: "Wenn man die Gestapo-Polizeirechte gerechtfertigt hatte, durfte man in der freiheitlichen Grundordnung Rektor und Kultusminister werden", sagt der französische Schriftsteller Alfred Grosser. "Die Kriterien, Dorfschullehrer oder Zollbeamter zu werden, scheinen mir wahrlich strenger zu sein." In Frankreich wird das deutsche Wort Berufsverbot in den französischen Wortschatz übernommen. 1975 entscheidet das Bundesverfassungsgericht, dass die Eignung eines Bewerbers nicht von der Mitgliedschaft in Organisationen, sondern von seinem Verhalten und seiner Persönlichkeit abhänge. Am 19. Mai 1976 legt die Bundesregierung neue Richtlinien zum Radikalenerlass fest. Einzelne Regelungen werden im Sinn der Bewerber verbessert. So haben sie nun zum Beispiel das Recht, einen Anwalt einzuschalten. In Einzelfällen soll nun der zuständige Minister entscheiden. Doch der Radikalenerlass bleibt umstritten. Von etwa 1,4 Millionen Überprüften wird rund 1.100 Personen der Eintritt in den Öffentlichen Dienst verwehrt. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) stellt schließlich fest, dass mit Kanonen auf Spatzen geschossen worden sei. 1979 verabschiedet sich der Bund vom Radikalenerlass. Bis alle Länder nachziehen, vergehen noch Jahre. Den Schlusspunkt setzt Bayern 1991.
Stand: 19.05.06