Stichtag

05. Januar 1896: Anton Philipp Reclam stirbt

"Mein Leipzig lob ich mir", schreibt Goethe in seinem berühmten "Faust". "Es ist ein Kleinparis und bildet seine Leute. " Kein Wunder also, dass Anton Philipp Reclam seine preiswerte Universalbibliothek mit der Teufelspakt-Tragödie des Weimarer Klassikers eröffnet. In Leipzig ist er 1807 geboren, und hier ist der Stammsitz seines Verlages. Überhaupt boomt in Leipzig der Markt für Bücher. Und die Leipziger Büchermesse hat im 19. Jahrhundert einen mindestens ebenso guten Ruf wie die von Frankfurt.Bereits in jungen Jahren taucht Reclam ein in die Literatur. Gebannt lauscht er den Geschichten, die seine Eltern – der Vater Verlagsbesitzer, die Mutter Schwester des berühmten Hamburger Verlegers Julius Campe – bei Tisch erzählen. Nach einer Buchbinderlehre leiht sich Reclam 3.000 Taler, um seinen eigenen Verlag samt einer Lesestube zu gründen, direkt neben Auerbachs Keller, der im "Faust" eine wichtige Rolle spielt. Es ist die Zeit des Vormärz, und Reclam versammelt allerlei revolutionäres Volk um sich: freche Literaten, aufmüpfige Journalisten, Zensurflüchtlinge aus dem Österreich des Staatskanzlers Metternich, deren Schriften er auch druckt und im Lesekabinett an der Obrigkeit vorbei verbreitet. Reclams eigentliche Stunde aber schlägt, als im Jahr 1867 die Urheberrechte für Klassiker 30 Jahre nach ihrem Tode fallen. Jetzt druckt der inzwischen 60-Jährige neben leichter Literatur für den Massengeschmack urheberrechtsfreie Werke von Goethe, Hauff, Kleist, Schiller, Heine und Lenz, jenseits der Schmuckausgaben anderer Verlage, zu billigem Preis – ein Konzept, das den Verlag bis heute bestimmt. Das bringt ihm den Spottnamen "Groschen-Reclam" ein – und einen riesigen, die Bilanzen verschönernden Kundenstamm. Der findige Verleger mit einem untrüglichen Gespür für die Marktlage stirbt am 5. Januar 1896. Am Tag seines Todes umfasst seine "Universal-Bibliothek" 3.470 verschiedene Ausgaben.

Heute ist Reclam mit seinem Stammsitz in Ditzingen bei Stuttgart ein Imperium. Die berühmten gelben Heftchen sind aus keinem Tornister mehr wegzudenken. Schließlich decken sie die gesamte Pflichtlektüre des Schulkanons ab. Zur Zeit der  DDR versorgte das Stammhaus in Leipzig den real existierenden Sozialismus mit Westliteratur, nach der Wende überraschte es mit einem respektablen Literaturprogramm. Trotzdem wird es laut Auskunft des Verlags zum Frühjahr 2006 geschlossen. Es sei sinnvoller, das Geschäft von Stuttgart aus zu führen, sagt Geschäftsführer Frank R. Max zur Begründung. Leipzig zu loben hat nicht mehr Konjunktur.Stand: 02.01.06