"Stern"-Titelseite "Wir haben abgetrieben" aus dem Jahr 1971

Stichtag

06. Juni 1971 - Vor 35 Jahren: 374 Frauen bekennen "Wir haben abgetrieben!"

Im Mai 1871 wird im Reichsstrafgesetzbuch festgeschrieben: "Eine Schwangere, welche vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft." 100 Jahre später ist der Abtreibungsparagraph 218 in der Bundesrepublik noch immer in Kraft. Trotz Gefängnisandrohung wird die Zahl der Abtreibungen Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre auf 80.000 bis 500.000 pro Jahr geschätzt. Aber nur 276 Frauen müssen 1969 deswegen vor Gericht und werden zu Minimalstrafen verurteilt. Formal gilt der Paragraph zwar noch, er wird aber nur selten angewendet. Die Situation in Frankreich ist ähnlich. Dort erhebt sich Protest: "Eine Million Frauen treiben jedes Jahr in Frankreich ab. Ich bin eine davon. Ich habe abgetrieben." Dieses Manifest veröffentlicht die französische Zeitschrift "Nouvel Observateur" am 5. April 1971. Unterzeichnet ist das Schreiben von 343 Frauen, darunter Simone de Beauvoir, Catherine Deneuve, Marguerite Duras und Jeanne Moreau.

Die Journalistin Alice Schwarzer, die zu dieser Zeit in Frankreich wohnt, will diese Aktion in die Bundesrepublik exportieren. Sie ruft bei der Zeitschrift "Stern" an, mit der sie zusammenarbeitet, und bekommt den Auftrag. Nach vier Wochen hat der Ressortleiter 374 Selbstbezichtigungen auf dem Schreibtisch. "Wir haben abgetrieben!" steht am 6. Juni 1971 in dicken Buchstaben auf der Titelseite des "Stern". 28 Fotos von Hausfrauen, Studentinnen und Schauspielerinnen wie Romy Schneider, Vera Tschechowa und Senta Berger sind abgebildet. Ihre Forderung: Eine ersatzlose Streichung des Paragraphen 218 und das Recht auf Abtreibung auf Krankenschein. Nicht alle unterzeichnenden Frauen geben den richtigen Beruf an, nicht alle haben wirklich abgetrieben, erklärt Senta Berger später: "Es war eine Provokation. Es ging nicht um individuelle Schicksale."

Die Reaktion der katholischen Kirche ist eindeutig: "Frauen, die nicht aus harten Gewissensgründen, sondern um der Bequemlichkeit des Wohlstandslebens willen am werdenden Leben schuldig geworden sind, rühmen sich öffentlich ihrer Verbrechen", lautet die Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz. Dennoch wirkt der Appell wie eine Initialzündung: Nach seiner Veröffentlichung unterschreiben bundesweit 3.000 weitere Frauen Selbstanzeigen. Rund 90.000 Unterschriften gegen den Paragraphen 218 werden gesammelt. Die katholische und die evangelische Kirche hingegen geben eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie sich gegen die Abschaffung der bestehenden Regelung aussprechen.

Am 26. April 1974 verabschiedet der Bundestag mit den Stimmen der sozial-liberalen Mehrheit eine Fristenregelung. Die Unionsfraktion klagt dagegen erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht. Gesetz wird schließlich eine Indikationslösung mit Beratungspflicht und der Angabe von mindestens einem von vier triftigen Gründen. Seit 1996 gilt: Der Abbruch ist rechtswidrig, bleibt aber straffrei, wenn die Frau sich vor der Abtreibung ausführlich beraten lässt. Für Alice Schwarzer ist das nur ein halber Sieg: Ein Abbruch sei nach wie vor kein Recht, sondern nur eine Gnade. "Das ist ein gefährlicher Zustand. Es genügt, dass das gesellschaftliche, politische Klima sich ändert und man kann diesen Paragraphen anders handhaben."

Stand: 06.06.06