"Ich bin glücklich zu wissen, dass ich meine Pflicht getan habe meinem Volk gegenüber, meine Pflicht als Deutscher, als Nationalsozialist, als treuer Gefolgsmann meines Führers", sagt Rudolf Heß als Angeklagter im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess.
Er gehört zu den "alten Kämpfern" der NSDAP - als Mitglied Nummer 16. Heß lernt Adolf Hitler 1920 kennen und wird sein engster Vertrauter: Hitler diktiert ihm seine Propagandaschrift "Mein Kampf". Bei der Machtübernahme der Nazis wird Heß 1933 Hitlers Stellvertreter. Auch er predigt Antisemitismus und Rassismus. Doch dann geht diese enge Verbindung zwischen Heß und Hitler am 10. Mai 1941 auf spektakuläre Weise zu Ende.
Heß startet gegen 18 Uhr vom Flugplatz der Messerschmidt-Werke in Augsburg mit einer Militärmaschine vom Typ Me110. Heß hat das Fliegen mit Anfang 20 im Ersten Weltkrieg gelernt. Zuerst fliegt er in Richtung Norden und überquert Deutschland ohne Zwischenfälle. Im britischen Luftraum verfolgt ihn kurz ein Kampfflugzeug der Royal Air Force. Heß schüttelt es ab. Fünf Stunden später, gegen 23 Uhr, erreicht er Schottland und springt mit dem Fallschirm in der Nähe von Glasgow ab.
Heß will mit den Briten über ein Ende des Krieges verhandeln: Für Deutschland die Vormachtstellung auf dem europäischen Kontinent, für Großbritannien die Führungsrolle auf den Weltmeeren. Ein solches Arrangement hatte auch Hitler immer wieder vorgeschwebt - mit der Absicht, diesen Pakt später aufzukündigen und die Weltherrschaft zu erringen.
Die meisten Historiker gehen aber davon aus, dass Heß auf eigene Faust gehandelt hat - ohne Wissen Hitlers, aber doch in der Hoffnung, in dessen Sinn zu handeln. Dass die Spitzen von Partei und Staat nichts von Heß' Plänen wussten, legt auch der Tagebucheintrag von Propaganda-Minister Joseph Goebbels nahe: "Es ist zu blödsinnig. So ein Narr war der nächste Mann nach dem Führer."
In Großbritannien denkt niemand daran, Heß als "Friedensboten" zu sehen. Er wird auf einem Anwesen in England festgesetzt. Das bewahrt ihn 1946 beim Nürnberger Prozess vor der Todesstrafe. Denn er ist am Einmarsch in die Sowjetunion und dem damit beginnenden Massenmord an den Juden nicht mehr persönlich beteiligt. Heß wird zu lebenslanger Haft verurteilt.
Mehr als 40 Jahre sitzt er im Kriegsverbrecher-Gefängnis in Berlin-Spandau ein, bis er sich am 17. August 1987 im Alter von 93 Jahren das Leben nimmt. Vom Nationalsozialismus hat Heß sich nie distanziert: "Was wir definitiv von ihm wissen, ist, dass er in all diesen Jahren - bei allen Informationsmöglichkeiten, die er hatte, von der Presse bis zum Fernsehen - zu keinerlei über das Jahr 1946 hinausgehenden Einsichten gekommen ist", sagt Historiker Kurt Pätzold. "Ich bereue nichts", sagte Heß damals in seinem Schlusswort im Nürnberger Prozess. "Stünde ich wieder am Anfang, würde ich wieder handeln, wie ich handelte."
Stand: 10.05.06