Das Vermächtnis von Charles Edouard Jeanneret gilt den einen als pure Offenbarung, den anderen als ärgerliches Missverständnis. Architekturhistoriker und Städteplaner von heute stoßen sich an den widersprüchlichen Leistungen des großen "Räume-Denkers", der sich bei seinem Künstler-Debüt den Namen Le Corbusier gab. Hätten 1925 Jeannerets Pläne zur Umgestaltung seiner Wahlheimat Paris Gestalt angenommen, würde heute außer dem Louvre und ein paar Kirchen nichts mehr an die historische Größe von Frankreichs Hauptstadt erinnern. Dort stände ein geometrisches Paris aus Beton, Stahl und Glas, eine geschichtslose Mega-City mit Plattenbau ähnlichen, 200 Meter hohen Wohnsilos und einem Verkehrssystem, das sich völlig den Erfordernissen der Moderne unterordnet.
Der Mann, der Paris liebt und trotzdem neu erfinden will, wird am 6. Oktober 1887 im Schweizer Jura geboren; sein Vater Kunsthandwerker im Uhrenbau, seine Mutter eine begabte Musikerin. Architektur fasziniert schon den jungen Jeanneret. Bereits als 18-Jähriger baut er sein erstes Haus, eine Villa für seinen Lehrer. 1908 wird er in Paris im Büro des berühmten Beton-Pioniers Auguste Perret aufgenommen. Dort findet der ehrgeizige Visionär das Material, dem er ein Leben lang Form geben wird. Aus einer Seifenkiste einen Palast schaffen, mit den Mitteln der Geometrie Höheres zum Ausdruck bringen, so lautet Le Corbusiers Philosophie, die er selbst radikal umsetzt. Seine in rascher Folge entstehenden Bauten, sowohl Privat- als auch Seriengebäude wie etwa die Stuttgarter Weißenhof-Siedlung, entfachen fruchtbaren Streit und gelten bald als Fundament der Architektur-Moderne.
Baukunst oder Revolution lautet Le Corbusiers Antwort auf die Probleme der modernen Gesellschaft. Trotz seines absoluten Anspruchs zeigt sich der brutale Betonierer aber immer wieder als feinfühliger Gestalter, der dem Beton in seinen besten Bauten sogar poetische Momente abringt, Nichts weniger als die Lösung aller Menschheitsprobleme verlangt der spätere Le Corbusier von der Architektur und verwirklicht seine revolutionären Großprojekte in Marseille und Bogota, in Rio de Janeiro wie im indischen Pandschab. Auch deutsche Trabanten-Wohnstädte gehen auf den Einfluss Le Corbusiers zurück. Der bis ins hohe Alter aktive Vater der Moderne ertrinkt 1965 im Alter von 77 Jahren beim Schwimmen. Frankreich dankt ihm mit einem Staatsakt und einem Grab im Hof des Louvre.
Stand: 06.10.07