Stichtag

27. August 2008 - Vor 25 Jahren: Harald Naegeli wird in Puttgarden verhaftet

Zürich, Ende der 1970er Jahre: Nacht für Nacht zieht Harald Naegeli mit der Spray-Dose durch die Stadt. Er sprüht unerkannt dünne, schwarze Strichfiguren auf Fassaden. "Mit einem souveränen Strich, der bis heute nicht übertroffen worden ist", sagt der Kölner Rechtsanwalt und Kunstsammler Louis Peters, der einen Bildband über Naegelis Werk veröffentlicht hat. "Das war ja wie jahrelang geplant. Da saß jeder Strich." Gekonnt sei jeweils die Architektur miteinbezogen worden. Zu Hunderten schmücken damals Naegelis Figuren Zürichs Innenstadt: Schwarze Augen auf langen Beinen tauchen auf Betonwänden und Garagentoren auf, umarmen Hydranten, warten in Treppenaufgängen. "Mich haben diese uniformen Architekturen fürchterlich provoziert", sagt Naegeli später. Er beginnt 1977 als 38-Jähriger mit seiner Kunst. Für ihn ist Sprayen eine "ungeheure Befreiung": Er sei lange ein verbitterter Mann gewesen, "aber als ich dann diese Sprache gefunden hatte, da wurde ich ein ganz fröhlicher, heiterer Mensch". Nach zwei Jahren ist Schluss mit der Anonymität. Nach einem nächtlichen Gerangel mit Wachmännern fliegt im Juni 1979 seine Identität auf.

Mit einem Schlag wird der Sohn eines Schweizer Psychiaters und einer norwegischen Malerin bekannt. Kunsthistoriker loben sein Werk, Galeristen sammeln Unterschriften für den Erhalt seiner Graffiti, prominente Fürsprecher wie Willy Brandt und Joseph Beuys setzen sich für Naegeli ein. Doch die Schweizer Justiz bleibt hart: Das Urteil lautet sechs Monate auf Bewährung wegen wiederholter Sachbeschädigung. Der Sprayer geht in Berufung. Doch die neue Entscheidung verschärft das Strafmaß: Naegeli wird nun zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Noch bevor das Urteil rechtskräftig ist, verlässt Naegeli die Schweiz im September 1981. Die Schweizer Behörden stellen daraufhin einen internationalen Haftbefehl aus. Zunächst erfolglos: Naegeli reist über Italien in die Bundesrepublik, lebt in Düsseldorf, sprayt in Frankfurt am Main und in Köln.

Schließlich wird Naegeli  am 27. August 1983 auf einer Reise nach Norwegen an der deutschen Grenzkontrollstelle Puttgarden im Norden der Insel Fehmarn in einem Zug festgenommen. Die deutsche Justiz beschließt die Auslieferung.  Von seiner Strafe muss Naegeli sieben Monate absitzen. Nach seiner Entlassung zieht er nach Düsseldorf, wo er heute noch lebt. Mittlerweile hat er sich zwar wieder in der Schweiz angemeldet und zahlt dort Steuern. Mit dem Land versöhnt ist er aber nicht: "Es kann keine Versöhnung stattfinden." Dennoch hört sich seine Lebensbilanz positiv an. Nach Naegelis Philosophie dreht sich im Leben einer Frau alles um die Liebe und bei einem Mann um die Kunst und die Macht. Bei ihm seien, jedenfalls vor einem Vierteljahrhundert, beide Komponenten da gewesen: "Ich hatte ungeheure Macht, aber in einem künstlerischen Sinn." Er fühle sich auch jetzt bei sich. "Aber damals war ich bestimmt im Zenit meiner Selbstverwirklichung."

Stand: 27.08.08