Stärker hätte der Kontrast zum anderen Großmeister im Klassik-Betrieb, Herbert von Karajan, gar nicht ausfallen können. Gegen das fanatische Allround-Talent Leonard Bernstein, den enthusiastischen Weltbürger, Entertainer und hemmungslosen Genießer aller Reize, wirkt der aristokratisch-elitäre Freiherr aus Salzburg zeitlebens wie ein Marmor-Denkmal seiner selbst. Karajan, so heißt es oft, versenke sich in Musik; Bernstein dagegen sei Musik. Scheinbar unverwüstlich im verschwenderischen Umgang mit seinen genialen Talenten, genießt Leonard Bernstein, der Sohn eines russisch-jüdischen Einwanderers, das Leben in vollen Zügen. Bis ins hohe Alter raucht er Kette, kifft, säuft und ist, wie es das Munzinger-Archiv dezent umschreibt, auch anderen Lastern zugetan. 1990 schließlich fordert dieses Leben seinen Tribut. Schwer lungenkrank muss der 72-Jährige eine Japan-Tournee mit den Londoner Symphonikern abbrechen. Kurz darauf, am 14. Oktober 1990, stirbt Leonard Bernstein in New York.
Samuel Bernstein, einst vor den Judenpogromen aus der Ukraine geflohen, lebt noch keine zehn Jahre in den Vereinigten Staaten, als am 25. August 1918 sein Sohn geboren wird. Leonard ist zehn Jahre alt, als ein von Tante Clara geerbtes Klavier seine musikalische Begabung zum Vorschein bringt. Gegen den heftigen Widerstand seines Vaters entscheidet sich Leonard für eine Musiker-Karriere. Er sieht blendend aus, spielt Jazz, studiert in Harvard und macht bald die Klassik-Koryphäen in den USA auf sich aufmerksam. Bereits mit 21 Jahren wird Bernstein von Fritz Reiner, dem am meisten gefürchteten Dirigenten seiner Zeit, als Schüler angenommen. Der Durchbruch kommt im November 1943. Ohne Probe springt Leonard Bernstein bei den New Yorker Philharmonikern für den erkrankten Star-Dirigenten Bruno Walter ein. Das Konzert wird landesweit im Radio übertragen und Bernsteins erster Triumph. 14 Jahre später ist er Chefdirigent der New Yorker, geliebt von seinen Musikern, vergöttert von seinen Fans.
Nach grandiosen Auftritten in Europa, erobert Leonard Bernstein 1957 als Komponist der "West Side Story" zunächst den Broadway, dann die Musicalbühnen der ganzen Welt. Die Verfilmung der von "Romeo und Julia" inspirierten Geschichte sammelt 1961 zehn Oscars ein. 53 Mal moderiert der auch als Entertainer begnadete Bernstein in jenen Jahren seine legendären TV-Jugendkonzerte in den USA. Es sind Sendungen, denen heute ein entscheidender Einfluss auf die Entwicklung und Bereicherung der amerikanischen Musikkultur zugeschrieben wird. 1966 verfällt auch der bedeutendste Klangkörper der Welt, die Wiener Philharmoniker, nach zunächst harschen Dissonanzen dem Charisma des fanatischen Gustav-Mahler-Verehrers Bernstein. Pausenlos umrundet "Lenny", längst auch Kultfigur des internationalen Jet-Sets, in den folgenden Jahrzehnten den Erdball. Seinen letzten großen Auftritt in Deutschland hat der auch politisch immer engagierte Bernstein nach dem Fall der Berliner Mauer. Unvergessen dirigiert er Weihnachten 1989 in Berlin Beethovens Neunte. Den Chor seines international besetzten Orchesters lässt er mit "Freiheit schöner Götterfunken" eine aktuelle Version von Schillers Ode singen.
Stand: 25.08.08