Egon Schiele hat ein Faible fürs weibliche Geschlecht. Wo anständige Mädchen nach Auskunft der Wiener Schauspielerin Tilla Durieux zur Jahrhundertwende aus "einem Kopf, zwei Händen und sonst nichts" zu bestehen haben, malt der junge Wilde der österreichischen Kunst Bilder mit dramatisch verdrehten Frauenakten, die gerade Brust und Scham betonen. Schiele trifft damit einen Nerv der doppelmoralischen Zeit. In der Provinz, wo er mit seinem Modell Wally Neuziel lebt, wird er wegen Verführung einer Minderjährigen inhaftiert - ein Vorwurf, der sich nicht halten lässt. Weil in seinem Atelier aber, gut sichtbar für Kinder, erotische Bilder hängen, wird er wegen "Verbreitung unsittlicher Zeichnungen" verurteilt: pikanterweise von einem Bezirksrichter, der pornografische Arbeiten des 19. Jahrhunderts sammelt.
Schiele wird 1890 als Sohn eines Bahnhofsvorstehers in Tulln an der Donau geboren. Als 15-Jähriger geht er an die Wiener Kunstakademie: "Sie hat der Deubel in meine Schule gekackt" mutmaßt sein konservativer Lehrer Christian Griepenkerl. Im Gebäude der Wiener Secession begegnet Schiele dem berühmtesten Vertreter der damaligen Moderne, Gustav Klimt, der ihn fördert. Klimts dekorativer Strich beeinflusst Schiele zunächst maßgeblich. Bereits 1910 aber findet der selbstbewusste Maler zu seinem expressiven, gänzlich eigenständigen Stil. Die Skandale um sein Werk tun seiner Beliebtheit keinen Abbruch. Im Gegenteil: Schiele gelingt es, sich ein Netzwerk von Gönnern und Förderern aufzubauen. Vor allem auch seine Porträts finden reißenden Absatz. Trotzdem ist der lebenslustige und verschwenderische Maler ständig in Geldnot.
1915 verlässt Schiele Wally Neuziel und heiratet Edith Harms, eine junge Frau aus gutem, bürgerlichen Hause. Vier Tage später wird er zur Armee eingezogen. Auch wenn er wegen Untauglichkeit nicht zum Fronteinsatz muss, schwächt ihn die Armut der Kriegszeit. Schiele stirbt am 31. Oktober 1918 in Wien an der Spanischen Grippe - ebenso wie seine Frau, die im sechsten Monat schwanger ist. In den zwölf Jahren seines Schaffens entstehen 300 Gemälde und 2.700 Arbeiten auf Papier. Der wahre Boom seiner Arbeiten setzt ab Mitte der fünfziger Jahre ein, heute erzielen seine Hauptwerke auf Auktionen bis zu 15 Millionen Euro.
Stand: 31.10.08