Nach dem Zweiten Weltkrieg geraten in der österreichischen Provinz in St. Pölten zwei Alt-Nazis wegen einer Erbschaft in Streit. Der eine droht dem anderen: "Ich geh zum Wiesenthal." Diese Anekdote bestätigt Simon Wiesenthal, der über fünf Jahrzehnte eine Art Schreckgespenst für Alt-Nazis in Deutschland und Österreich ist. Der Holocaust-Überlebende hat sich die Suche nach untergetauchten NS-Mördern zur Lebensaufgabe gemacht. Geboren wird er am 31. Dezember 1908 im galizischen Buczacz bei Lehmberg am östlichen Rand der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Sein Vater führt einen Zucker-Großhandel. Als Kind spielt Simon mit Zuckerwürfeln und baut daraus kleine Häuser: "Architektur hat mich immer interessiert als etwa Bleibendes." Die unbeschwerte Kindheit endet mit dem Ersten Weltkrieg. Die Familie flieht vor den russischen Truppen nach Wien, der Vater fällt als Offizier der österreichischen Armee. Nach Kriegsende studiert Simon Architektur, heiratet Cyla Müller, seine Jugendliebe, und arbeitet als Architekt in Lemberg.
Als die Nazis in Deutschland an die Macht kommen, macht sich der begabte Zeichner Wiesenthal mit Karikaturen über Hitler lustig. 1941 marschiert die Wehrmacht in Lemberg ein, die jüdische Intelligenz wird verhaftet. Darunter ist auch Wiesenthal. Er wird zum Tode verurteilt, kann fliehen und wird erneut aufgegriffen. Kurz bevor er erschossen werden soll, wird er nackt von der Sandgrube weggeführt, die als Massengrab dient. Seine Zeichenkunst rettet ihn: "Sie brauchten einen Transparentenmaler: 'Wir danken unserem Führer'." Wiesenthal durchleidet insgesamt zwölf Konzentrationslager. Er denkt an Selbstmord. Doch ein Gedanke hält ihn am Leben: "Ich will den Zusammenbruch des Bösen erleben." Im Mai 1945 wird Wiesenthal im KZ Mauthausen im österreichischen Linz von US-Soldaten befreit. "Die Sanitäter haben uns gewogen: Mein Gewicht war 44 Kilogramm bei 180 Zentimeter", erinnert er sich.
Wiesenthal kann sich einer amerikanischen Kommission zur Untersuchung der NS-Verbrechen anschließen. Er wird der wohl erfolgreichste "Nazi-Jäger". Selbst fühlt er sich "eher als Rechercheur". Zur Bewältigung der Arbeit gründet er ein Dokumentationszentrum, 1947 in Linz, 1961 in Wien. Er fahndet erfolgreich nach Verantwortlichen für den Genozid: Nach Adolf Eichmann, dem bürokratischen Organisator der "Endlösung", nach Treblinka-Kommandant Franz Stangl und nach Karl Silberbauer, der Anne Frank verhaftet hatte. Rund 1.200 Nazi-Täter hat er nach eigener Statistik enttarnt und Prozesse gegen sie ermöglicht. Sein Motto lautet "Recht, nicht Rache": "Wäre ich ein Hasser gewesen, hätte ich Unschuldige angeklagt." Aber für Simon Wiesenthal, der am 20. September 2005 im Alter von 96 Jahren in Wien stirbt, ist auch klar: "Wer verstrickt war in Massenmord, hat verwirkt, in Ruhe zu sterben. Wenn wir diese Warnung nicht aussprechen, dann sind Millionen für nichts gestorben."
Stand: 31.12.08