Stichtag

23. November 2008 - Vor 50 Jahren: Bundesvereinigung Lebenshilfe gegründet

1952 erhält der niederländische Lehrer Tom Mutters vom UN-Hochkommissar für Flüchtlinge einen Auftrag: Er soll sich im hessischen Goddelau um rund 50 schwer geistig behinderte Kinder von ehemaligen KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern kümmern. Bei der Besichtigung des Philipps-Hospital ist Mutters schockiert: "Die Situation war menschenverachtend. Sie lagen da in stinkenden Holzbetten. Ich hatte vorher nie mit solchen Kindern zu tun gehabt." Der stellvertretende Anstaltsdirektor meint damals: "Kümmern Sie sich nicht um diese Kinder. Sie sind zwar Pädagoge, aber auch Sie können aus diesen Idioten keine Professoren machen." Eine solche Einstellung ist in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik noch weit verbreitet. Geistig Behinderte gelten auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin als "lebensunwert" - obwohl die Nazis mit ihrem "Euthanasie"-Programm zehntausende "Erbkranker" ermordeten. Viele Eltern verstecken deshalb ihre behinderten Kinder auch weit nach Kriegsende.

Mutters ist von den Entwicklungsmöglichkeiten geistig Behinderter überzeugt und will sie unterstützen: "Menschen mit geistigen Behinderungen brauchen ihr Leben lang irgendeine Hilfe." Er sucht deshalb Kontakt zu Fachleuten und Eltern. Am 23. November 1958 versammeln sich in Marburg 15 Personen und beschließen die "Gründung eines deutschen nationalen Vereins von Eltern und Freunden geistig Behinderter", wie es in Mutters Einladungsschreiben heißt. Zum wissenschaftlichen Beirat der Elternvereinigung gehören auch zwei Gründungsmitglieder, deren braune Vergangenheit erst 1992 öffentlich bekannt wird: Professor Werner Villinger hat in der NS-Zeit als Gutachter über Zwangssterilisationen und "Euthanasie" befunden, Professor Hermann Stutte hat über "Rassenhygiene" habilitiert und vor Gericht Anträge auf "Unfruchtbarmachung" gestellt.

Heute hat die Bundesvereinigung Lebenshilfe rund 135.000 Mitglieder in 16 Landesverbänden. Sie verfügt über heilpädagogische Kindergärten, Werkstätten, Heime, Frühfördereinrichtungen und eigene Schulen. In den mehr als 3.000 Einrichtungen arbeiten über 60.000 hauptamtliche Mitarbeiter, die rund 160.000 Menschen mit Behinderung betreuen. "Der Service ist gut", sagt Eva-Maria Thoms, Mutter einer neunjährigen Tochter mit Down-Syndrom und Mitglied der Lebenshilfe. Doch sie hat auch Kritik: Die Lebenshilfe habe zwar erkämpft, dass geistig behinderte Kinder überhaupt zur Schule gehen können. Allerdings würden viele dieser Kinder in Sondereinrichtungen beschult und seien deshalb gesellschaftlich nicht integriert. Statt selber nur geschützte Räume zu schaffen, müsse die Lebenshilfe offensiver werden, fordert Thoms: "Sie müsste politisch die Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft einfordern." Thoms hat selbst reagiert und den Kölner Verein "Mittendrin" gegründet. Er setzt sich für die Integration behinderter Kinder in die Regelschulen ein.

Stand: 23.11.08