Stichtag

13. Dezember 2009 - Vor 90 Jahren: Gründung der Arbeiterwohlfahrt

Die Begrüßungsanrede klingt schlicht, ist aber revolutionär: "Meine Herren und Damen", ruft die Abgeordnete Marie Juchacz im Februar 1919 der Nationalversammlung in Weimar zu. Das Protokoll notiert "Heiterkeit" unter den Angesprochenen. "Es ist das erste Mal, dass eine Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volk sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, …dass es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat." Zu diesen Vorurteilen gehört für die Frauenrechtlerin und Sozialreformerin vor allem, dass die Alten und Bedürftigen der Gesellschaft zu Almosenempfängern degradiert werden und allein auf die Gnade von Staat und Kirche angewiesen sind. Im Vorstand der Sozialdemokratischen Partei kämpft die 1879 geborene Marie Juchacz vehement für verbriefte soziale Rechte der Arbeiterschaft, die jetzt nach dem verlorenen Weltkrieg unter erdrückender Not leidet.

Schon im Kaiserreich, als der Empfang von Wohlfahrtsleistungen zwingend mit dem Verlust der Bürgerrechte erkauft werden musste, träumte Marie Juchacz vom Aufbau einer sozialpolitischen Kampforganisation der Arbeiterschaft. Zehn Monate, nachdem sie als erste Frau vor einem deutschen Parlament sprechen durfte, ist sie endlich am Ziel. Auf einer Sitzung der sozialdemokratischen Parteispitze am 13. Dezember 1919 gibt Marie Juchacz den Anstoß zur Gründung des "Hauptausschusses für Arbeiterwohlfahrt in der SPD". Sie selbst wird zur ersten Vorsitzenden des kurz AWO genannten Verbandes gewählt. Von den bereits etablierten Wohlfahrtsorganisationen, der evangelischen Diakonie, der katholischen Caritas und der Zentralen Wohlfahrtsstelle der deutschen Juden, unterscheidet sich die AWO deutlich in ihrem klassenkämpferischen Anspruch: Ihr eigentliches Ziel ist nicht Mildtätigkeit, sondern Veränderung der Gesellschaft und Durchsetzung fundamentaler sozialer Rechte für die Ärmsten.

In den folgenden Jahren bauen die Mitarbeiter der ehrenamtlich organisierten Arbeiterwohlfahrt ein Netz von Wärmestuben, Volksküchen und Kleiderspenden auf. 1923 entsteht eine Ferienbetreuung für Arbeiterkinder und 1928 in Berlin eine eigene Wohlfahrtsschule, die Männer und Frauen für soziale Berufe ausbildet. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wird die AWO im Mai 1933 verboten, das Vermögen beschlagnahmt und die führenden Köpfe verfolgt. Marie Juchacz emigriert erst ins Saarland, dann nach Frankreich und schließlich 1941 in die USA, wo sie die Arbeiterwohlfahrt New Yorks aufbaut. Ein Jahr nach Kriegsende kommt es in Hannover zur Neugründung der AWO als parteipolitisch und konfessionell unabhängiger Hilfsverband. 1949 kehrt Marie Juchacz in ihre Heimat zurück und wird Ehrenvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt. Am 28. Januar 1956 stirbt die heute fast vergessene Sozialreformerin in Düsseldorf. Als marktwirtschaftlich straff organisiertes Dienstleistungsunternehmen der Freien Wohlfahrtspflege betreibt die AWO heute mit 150.000 bezahlten und ehrenamtlichen Mitarbeitern rund 14.000 Einrichtungen – die meisten davon in der Altenarbeit.

Stand: 13.12.09