Stichtag

22. Oktober 2009 - Vor 105 Jahren: Erste deutsche Zeitung im Straßenverkauf

Am 22. Oktober 1904, zur Mittagszeit, wird die hektische Reichshauptstadt Berlin noch ein wenig lauter. Eine Horde flinker und uniformierter Zeitungsjungen mit der "B.Z. am Mittag" unterm Arm schlängelt sich durch den Verkehr, zieht durch Straßenbahn- und U-Bahnwagen und versucht, mit der Schlagzeile "Sturm auf Port Arthur. Russische Offensive an der Mandarinenstraße" gegen den Lärm der Metropole anzuschreien.Diese Meldung vom russisch-japanischen Krieg war "der erste Lebensschrei, die Geburt einer neuen Zeitung", erinnerte sich Mitte der 1920er Jahre der stellvertretende Chefredakteur der "B.Z. am Mittag", Gustav Kauder. Und zwar einer Zeitung, die "mit der Forschheit eines echten Berliner Kindes" auch sogleich ihr Lebensrecht durchsetzte.

Erfunden wird die "B.Z. am Mittag" von den Gebrüdern Ullstein. Mit ihr wollen die beiden Verleger ihre Position auf dem hart umkämpften Zeitungsmarkt stärken. Hunderte von Zeitungen gibt es damals in Berlin; aber alle erscheinen sie am Morgen oder am Abend. In der schnelllebigen Großstadt soll die "B.Z. am Mittag" mit Gerichtsberichten, aktuellen Auslandsmeldungen, Sport, Feuilleton und ausführlichen Theaterkritiken diese Lücke schließen. "Nur das Neueste", für fünf Pfennig, das will die erste Boulevardzeitung Deutschlands laut dem Ruf der Zeitungsjungen bieten. Kurze, prägnante Sätze, ein informativer Telegrammstil ohne Bilder ist Pflicht.Dabei richtet sich der Erscheinungstakt der Zeitung nach der Berliner Börse: Um 12.10 Uhr erfolgt die Notierung der ersten Kurse, zwei Minuten später werden die Kurse an die Redaktion der "B.Z. am Mittag" durchgegeben. Dann gelangt die Meldung zu den Setzmaschinen, die Platten werden in ihre Formen gesetzt und die Rotationsmaschinen angeworfen. Um 12.18 Uhr bringt ein Tross von Lastwagen, Fahrrädern und Flugzeugen die Zeitung unters Volk. Ganze acht Minuten sind zwischen der Börsenmeldung und der Auslieferung vergangen.Bald schon können die Gebrüder Ullstein ihre "B.Z. am Mittag" auf Plakatwänden als die "schnellste Zeitung der Welt" preisen. So schnell ist sie, dass die Reichskanzlei am 9. November 1918 den Andruck der Schlagzeile "Der Kaiser hat abgedankt" stoppen will, um Chaos zu verhindern - zu dem Zeitpunkt ist die Lage in Berlin noch unübersichtlich. Am 6. Februar 1919 muss der verblüffte Reichspräsident Friedrich Ebert ( SPD ) seine Rede zur Eröffnung der Nationalversammlung in Weimar gar auf dem Weg dorthin vorabgedruckt in der "B.Z. am Mittag" lesen. Und die Ermordung des deutsch-jüdischen Politikers Walther Rathenau am 24. Juni 1922 wird, durch einem Augenzeugen an die Redaktion durchtelefoniert, 23 Minuten später von den Zeitungsjungen in der ganzen Stadt ausgerufen.

Zu Spitzenzeiten erreicht die "B.Z. am Mittag" eine Auflage von über 200.000 Exemplaren. Zum Erfolg tragen auch die allgemeinen neuen Arbeitszeiten bei, die mit kürzeren Mittagspausen verbunden sind. Arbeiter und Angestellte können nicht mehr nach Hause gehen, um in Ruhe ihre abonnierten Zeitungen zu studieren, sondern müssen die Meldungen des Tages auf der Straße kaufen. 1943 wird die "B.Z. am Mittag", inzwischen gleichgeschaltet, aufgrund von Papiermangel eingestellt. Zehn Jahre später startet der Springer-Verlag mit der heute immer noch existierenden Boulevardzeitung "B.Z." eine Neuauflage.

Stand: 22.10.09