1955 steht ein ungewöhnlicher Mann in New York, an der Ecke von 6th Avenue und 54ster Straße: Zwei Meter groß ist er, trägt einen langen weißen Bart und auf dem Kopf einen Wikingerhelm mit Hörnern. Er spielt mit geschlossenen Augen eine dreieckige Trommel, singt und rezitiert Gedichte. Der blinde Straßenmusiker ist aber kein Obdachloser, sondern einer der kreativsten Komponisten des 20. Jahrhunderts: Louis Thomas Hardin, der sich selbst "Moondog" nannte, weil sein langjähriger Blindenhund gern den Mond anbellte.
Blind ist Louis Hardin seit seiner Jugend im US-Bundesstaat Missouri. Der 16-Jährige findet an den Bahngleisen ein Metallteil, hämmert darauf herum, Schlaginstrumente faszinieren ihn. Doch diese Trommel ist eine Sprengkapsel, die in seinem Gesicht explodiert. Auf einem College in Iowa lernt Hardin die Blindenschrift und erhält eine musikalische Grundausbildung. Mit 27 Jahren bricht er auf nach New York - blind, allein, ohne Geld. "Ich hatte die Wahl, entweder auf die Straße zu gehen oder in ein Heim, um dort Matten oder Körbe zu flechten. Aber so eine Schattenexistenz wollte ich nicht." Moondog baut seltsame Instrumente wie die dreieckige Trommel Trimba oder die Zither Oo. Der "Wikinger von Manhattan" ist eine der am meisten fotografierten Straßengestalten von New York und Pilgerziel für andere Musiker, wie Charlie Parker, Leonard Bernstein, Igor Strawinsky und Janis Joplin. Das Hilton-Hotel wirbt sogar mit dem Slogan: "Sie finden uns gegenüber von Moondog".
Hardin komponiert und entwickelt seinen unverwechselbaren Stil: Rhythmisch oft kompliziert und modern, die Melodien dagegen sehr harmonisch und streng orientiert am Kontrapunkt. Er schreibt gleichermaßen Jazzstücke und Streicherwerke, veröffentlicht sogar Platten. Den Durchbruch schafft er nie, findet aber schließlich sein "composer's paradise ", sein Komponisten-Paradies: in Deutschland. 1974 kommt er auf Einladung des Hessischen Rundfunks ins Land von Bach und Beethoven und bleibt hier hängen. Kurz vor Weihnachten 1975 trifft die Familie Göbel den Straßenmusiker in der Fußgängerzone von Recklinghausen - und lädt ihn ein.
In Oer-Erkenschwick, wo die Familie wohnt, kann sich der fast 60-jährige Moondog endlich künstlerisch voll entfalten. Vor allem Ilona Göbel - damals Studentin - richtet ihr Leben auf ihn aus: Sie lernt, seine Kompositionen aus der Blindenschrift Braille in Noten zu übertragen, wird seine Managerin und begleitet ihn überall hin. "She is my eyes", sagt Moondog, "Sie ist meine Augen." In den 24 Jahren bis zu seinem Tod entsteht ein Großteil seiner 1.300 Werke, darunter Orchesterstücke, Jazztitel, Madrigale, Kinderlieder und Obertonmusik. Am 8. September 1999 stirbt Louis Thomas Hardin alias Moondog im Alter von 83 Jahren in einem Krankenhaus in Münster - mit der Komponiernadel in der Hand.
Stand: 08.09.09