Tom Jobim ist etwas mulmig zumute. Freunde haben ihn in dieser Frühlingsnacht 1957 in ein Appartement an der Copacabana gelockt. Dort erwartet sie Zé Maconha, übersetzt etwa "Kiffer-Joe" – ein langhaariger Typ, der früher vor den Nachtclubs herumgammelte, in denen Jobim als Pianist auftrat. Als Zé Maconha, der eigentlich Joao Gilberto heißt, auf der Gitarre seinen Song "Bim-Bom" anstimmt, ist Jobim wie elektrisiert. Gilbertos Finger flitzen über den Gitarrenhals, produzieren einen ganz eigenen, völlig neuen Rhythmus, der zwar von der Samba inspiriert ist, aber sehr viel anspruchsvoller klingt. Ein Rhythmus, der dem arrivierten Samba-Komponisten Jobim genau die Freiheiten für unkonventionelle Melodien und Akkorde bietet, nach denen er lange gesucht hat. Der nächtliche Besuch bei Joao Gilberto hat weit reichende Folgen. Denn die Begegnung der beiden brasilianischen Musiker gilt als die Geburtsstunde des Bossa Nova, eines Stils, der bis heute maßgeblichen Einfluss auf die populäre Musik weltweit hat.
Antonio Carlos Jobim, genannt "Tom", wird 1927 als Sohn eines Diplomaten und Poeten in Ipanema, einem kultivierten Strand-Viertel von Rio de Janeiro geboren. Die Eltern trennen sich bald nach seiner Geburt, so dass Tom im Kreis der musikalischen Verwandtschaft aufwächst. Mit 14 Jahren wird er Schüler des deutsch-stämmigen, in Brasilien höchst angesehenen Musikprofessors Hans-Joachim Koellreutter, der seine späteren Kompositionen maßgeblich beeinflussen wird. Sein erstes Geld verdient Jobim Anfang der 50er Jahre als Pianist in Nachtclubs oder in den Studios verschiedener Plattenfirmen. Dort macht er mit eigenen Arrangements und Kompositionen von sich reden. Seinen Durchbruch erlebt Jobim 1959 mit der Musik zu dem Oscar-prämierten brasilianischen Film "Orfeu Negro". Die Texte stammen vom renommierten Dichter Vinicius de Moraes. Mit ihm zusammen komponiert Jobim in jenen Jahren zahlreiche Klassiker des Bossa Nova (Neue Welle), wie etwa das weltberühmte, zeitlose Lied vom "Girl from Ipanema". Von Joao Gilberto mit leiser, leichtfüßiger, aber klarer und unprätentiöser Stimme gesungen, leiten diese Bossa-Nova-Songs einen radikalen Umbruch in der modernen Musik Brasiliens ein.
Bedeutende US-Jazzmusiker wie die Saxofonisten Coleman Hawkins und Stan Getz oder der Gitarist Charlie Byrd lassen sich von dem neuen Sound begeistern und importieren ihn nach Nordamerika. Als dort 1962 das erste Bossa-Nova-Album von Tom Jobim erscheint, hält es sich über 70 Wochen in den Charts. Topstars wie Ella Fitzgerald, Sarah Vaughan und Frank Sinatra reißen sich um eine Zusammenarbeit mit dem Komponisten dieser aufregenden neuen Musik und produzieren mit dem "Boy from Ipanema" einige ihrer größten Hits. 1969 muss Antonio Carlos Jobim, der sich in seiner Heimat massiv für den Umweltschutz einsetzt, für einige Zeit vor der Militärregierung Brasiliens nach London fliehen. Er tritt bei Tribute-Konzerten und in Fernseh-Shows auf, unterstützt den Sänger Sting bei seinem Engagement zum Schutz des Regenwaldes und tourt als überall willkommener Botschafter moderner brasilianischer Kultur um die Welt. Völlig überraschend erliegt Antonio Carlos "Tom" Jobim am 8. Dezember 1994 in New York den Folgen einer Blasenoperation. Drei Tage lang trauert Rio de Janeiro offiziell um einen seiner größten Söhne. Der internationale Flughafen der brasilianischen Metropole trägt heute Jobims Namen.
Stand: 08.12.09