Nach fast zehnjähriger Arbeit enthüllt Michelangelo 1541 im Vatikan sein "Jüngstes Gericht". Ein monumentales Fresko, das die knapp 200 Quadratmeter große Altar-Stirnwand der Sixtinischen Kapelle vollständig ausfüllt. Im Zentrum steht ein fast nackter, vitaler Christus, ohne Bart und Wundmale, verewigt wie ein tänzelnder Apoll. Nie zuvor wurde der Sohn Gottes derart skandalös dargestellt. Dazu tummeln sich rund um den Weltenrichter 390 Figuren, von denen viele unbekleidet und in vermeintlich anstößigen Posen dargestellt sind. Papst Paul IV. schäumt vor Wut, spricht von Ketzerei und verlangt von Michelangelo, das Skandal-Gemälde zu vernichten. Doch so hoch die Wellen der Empörung auch schlagen, über 20 Jahre lang wagt es niemand, Hand an das anerkanntermaßen einzigartige Kunstwerk des 66-jährigen Renaissance-Malerfürsten zu legen.
Erst als Michelangelo 1564 auf dem Sterbebett liegt, erlässt das Konzil von Trient ein Dekret, die anrüchigsten Darstellungen zu entschärfen. Um Protesten zuvorzukommen, beauftragt Pauls Nachfolger Papst Pius IV. einen engen Freund und glühenden Verehrer Michelangelos mit der Ausführung der heiklen Aufgabe. Es ist Daniele da Volterra, an einem unbekannten Tag des Jahres 1509 in der Toskana geboren, der als Maler und Bildhauer selbst einen hervorragenden Ruf genießt. Dank der Protektion Michelangelos bekleidet er den Posten des künstlerischen Oberaufsehers im Vatikan. "Hätte er nicht im Schatten Michelangelos gestanden, wäre er sicher berühmter heute", urteilt der Leipziger Kunstgeschichtsprofessor Frank Zöllner. Da Volterras Hauptwerk, das Fresko "Kreuzabnahme", hängt nicht weit vom "Jüngsten Gericht" entfernt, aber fast unbemerkt mitten in Rom, in der Kirche Santa Trinita de Monti.
Mit großem Respekt vor der Leistung seines Gönners macht sich Daniele da Volterra an die Verstümmelung des "Jüngsten Gerichts". Wo immer es die Sittlichkeit gebietet, eine Blöße zu bedecken, fügt er ein schmales Tuch, einen dunklen Schatten oder einen Lendeschurz ein. Zwei Gestalten muss er komplett von der Wand schlagen. Zu innig neigt sich der nackte St. Blasius, die Folterwerkzeuge in der Hand, über die ebenfalls völlig unbekleidete Heilige Katharina. Doch bis auf diese eine Szene, die da Volterra in der verlangten Schicklichkeit völlig neu "al fresco", also in den frischen, feuchten Putz malt, bleibt das "Jüngste Gericht" von dauerhaften Beschädigungen verschont. 1565 vollendet Daniele da Volterra seine berühmteste Arbeit und geht dafür als "Braghettone", als "Hosenmaler" in die Kunstgeschichte ein. Am 4. April 1566, zwei Jahre nach dem Tod seines großen Vorbildes Michelangelo, stirbt er in Rom. Als der Vatikan das "Jüngste Gericht" von 1980 bis 1994 grundlegend säubern und wiederherstellen lässt, werden alle späteren Hinzufügungen anderer Künstler entfernt. Nur die Schamtücher des Daniele da Volterra bleiben als Zeitzeugnis der Kunstgeschichte erhalten.
Stand: 29.12.09