Anfang des Jahres 1945 setzt sich eine Gräfin bei Königsberg in Ostpreußen auf ein Pferd und reitet sieben Wochen nach Westen, bis in die Gegend von Detmold. Die 35-jährige Marion Gräfin Dönhoff flüchtet vor den russischen Truppen und ihr Lieblingspferd ist nun alles, was sie – die ehemals reiche Adelige – besitzt. Viele Jahre später, 1995, wird sie über den Verlust ihrer Heimat sagen: "Vielleicht ist dies der höchste Grad der Liebe: Zu lieben ohne zu besitzen." Da hatte sie in der Redaktion der Wochenzeitung "Die Zeit" längst eine neue Heimat gefunden: Flucht und Neuanfang machen aus ihr eine der größten Publizistinnen Deutschlands.
"Wenn ich an die Wälder und Seen Ostpreußens denke, an die weiten Wiesen und alten Alleen, dann bin ich sicher, dass sie noch genau so unvergleichlich schön sind wie damals, als sie mir Heimat waren." Marion Dönhoffs Geburtsort ist das Schloss Friedrichstein bei Königsberg (heute Kaliningrad), Stammsitz des über 800 Jahre alten deutschen Adelsgeschlechts. Dort kommt sie als jüngstes von sieben Kindern am 2. Dezember 1909 zur Welt und verlebt eine unbeschwerte Kindheit. Sie spielt mit den Dorfkindern im Dreck, erhält aber auch eine standesgemäße Erziehung - mit Etikette, Prunk und Monarchie.
Marion Gräfin Dönhoff macht Abitur in einer reinen Jungenklasse und beginnt 1932 ein Ökonomie-Studium an der Universität von Frankfurt. Mutter und Verwandtschaft sehen es nicht gern, vor allem weil Dönhoff radikale Meinungen vertritt. "Einige bezeichnen mich gerne als 'Rote Gräfin', weil ich sehr viel Sinn für soziale und sozialistische Gedanken habe", erinnert sich Dönhoff. Die Nationalsozialisten verachtet sie: Als Hitler 1933 an die Macht kommt, geht sie als Studentin nach Basel in die Schweiz. Fünf Jahre später kehrt sie zurück und übernimmt die Leitung von Schloss Friedrichstein - bis die sowjetischen Truppen Königsberg (heute Kaliningrad) erreichen.
Nach ihrer Flucht beginnt das zweites Leben der Schlossherrin: als Journalistin, Chefredakteurin und Herausgeberin. Durch Zufall kommt sie 1946 in die Redaktion der jungen Wochenzeitung "Die Zeit" in Hamburg. Der ehemalige Chefredakteur Theo Sommer sagt: "Sie war eine jugendliche Erscheinung und sehr wissbegierig. Sie hat den Leuten Löcher in den Bauch gefragt. Sie war diskussionsfreudig und offen für andere Meinungen." Ihr großes Thema ist die deutsche Ostpolitik. "Die Wiedervereinigung ist unvermeidbar, die kommt eines Tages, weiß Gott wann, aber sie kommt. Und Berlin muss wieder Hauptstadt werden", sagte sie.
Marion Gräfin Dönhoffs neue Heimat war über 50 Jahre lang die Redaktion der "Zeit". Sie starb am 11. März 2002 im Alter von 92 Jahren.
Stand: 02.12.09