Nie zuvor hat die SPD ein derartiges Wahldebakel erlebt. Beim Urnengang zur Wahl des 3. Deutschen Bundestages 1957 gewinnt Kanzler Konrad Adenauer für die CDU/CSU mit 50.19 Prozent die absolute Mehrheit. SPD-Kandidat Erich Ollenhauer hat gerade noch 31,75 Prozent der Stimmen errungen. In der traditionsreichen linken Arbeiterpartei werden die seit Jahren anhaltenden Diskussionen um eine Neuausrichtung des noch stramm marxistischen Heidelberger Parteiprogramms von 1925 immer lauter. Aufstrebende Reformpolitiker wie Herbert Wehner, Willy Brandt und Fritz Erler fordern einen realistischen Kurs: Weg mit den alten Klassenkampfparolen. Wettbewerb so weit wie möglich – Planung so weit wie nötig. Weg mit Forderungen nach Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, die in Zeiten des beginnenden Wirtschaftswunders nur noch ideologischer Ballast sind. Am 13. November 1959 treten die Sozialdemokraten in Bad Godesberg zu einem Sonderparteitag zusammen, um ein neues Grundsatzprogramm zu beschließen. Die Stuttgarter Zeitung titelt: "Die SPD nimmt Abschied von ihrer Geschichte".
In der Godesberger Stadthalle prallen Reformer und Traditionalisten hart aufeinander. SPD-Chef Ollenhauer, obwohl selbst Angehöriger der älteren Generation, hat erkannt, dass der Weg zur Regierungsmacht nur durch radikale Abkehr von einem von Marx und Engels inspirierten Programm zu erreichen ist. Die marxistischen Altkader dagegen fürchten bei Aufgabe historischer linker Prinzipien den Verlust der Stamm-Wählerschaft unter den Arbeitern und damit den Absturz in die politische Gesichts- und Bedeutungslosigkeit. 200 Anträge auf Änderung des vorliegenden Reformentwurfs stehen auf der Tagesordnung der 340 angereisten Delegierten. Der stellvertretende Vorsitzende Wehner schlachtet eine heilige Kuh nach der anderen: Außer der Hinwendung zur sozialen Marktwirtschaft fordert er auch ein deutliches Bekenntnis zur Bundeswehr und dem West-Bündnis. Am heftigsten debattieren die von je her Klerus-kritischen Sozialdemokraten über eine Neudefinition ihres Verhältnisses zu den Kirchen, deren gesellschaftliche Rolle die Reformer nun akzeptieren und sogar befürworten.
Nach dreitägigem Schlagabtausch gelingt es Erich Ollenhauer, auch die Alt-Marxisten in der SPD auf den neuen Kurs - weg von der Klassen-, hin zur Volkspartei - einzuschwören. Mit nur 16 Gegenstimmen beschließen die Delegierten am 15. November 1959 das Godesberger Programm der Sozialdemokratie. In der Öffentlichkeit erntet die SPD zunächst viel Argwohn und Spott. Sie wolle "die bessere CDU" werden, klagen viele Alt-Linke. Die Kabarettisten von der Münchener Lach- und Schießgesellschaft ätzen über die Führungsköpfe der SPD, die wohl hoffentlich eine "Umfall-Versicherung" abgeschlossen haben. Doch der pragmatische, ideologisch entschärfte Kurs entwickelt sich zum Erfolgsmodell. 1966 erobert die SPD erstmals nach dem Krieg Regierungsämter im Kabinett der Großen Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger. 1972 fährt Willy Brandt als Kanzler der sozialliberalen Regierung mit 45,85 Prozent das beste Wahlergebnis in der Geschichte der SPD ein.
Stand: 13.11.09