Stichtag

25. November 2009 - Vor 20 Jahren: Alevitische Gemeinde Deutschlands gegründet

Bis zum Tatort "Wem Ehre gebührt", der im Dezember 2007 in der ARD ausgestrahlt wird, haben die meisten Deutschen nie etwas von den Aleviten gehört. Damals demonstrieren 150.000 Aleviten gegen den Krimi, in dem ein Fall von Inzest in einer alevitischen Familie vorkommt. Denn der Inzest-Vorwurf verfolgt die liberale, muslimische Religionsgemeinschaft in der Türkei seit rund 500 Jahren. Jahrhundertelang verbergen die Aleviten deshalb ihren Glauben. Erst seit sie nach Deutschland und in andere europäische Länder emigrierten, bekennen sie sich. Am 25. November 1989 gründen sie die Alevitische Gemeinde Deutschlands mit Hauptsitz in Köln.

Rund 700.000 Aleviten leben in Deutschland; die meisten kamen als Gastarbeiter aus der Türkei. Die Gemeinschaft zählt zu den rund 3,5 Millionen Muslimen in Deutschland. Die liberaleren Aleviten leiten ihren Namen von Ali ab, dem Schwiegersohn des islamischen Propheten Mohammed. Das Alevitentum entsteht kurz nach Mohammeds Tod im Jahr 632. Doch ihr Glauben unterscheidet sich stark von dem der Sunniten und Schiiten. "Die Aleviten folgen der Scharia nicht", sagt Ismail Kaplan, der Bildungsbeauftragte der Alevitischen Gemeinde Deutschlands. Sie verzichten auf jenes Regelwerk, das das sunnitisch-islamische Leben gestaltet: unter anderem auf die Pflicht der fünf täglichen Gebete, den Fastenmonat Ramadan, die Kopfbedeckung für Frauen. Männer und Frauen sind gleichgestellt und beten nicht in der Moschee, sondern in Cem-Häusern.

Männer, Frauen und Kinder – sie alle beten gemeinsam. Dieser Brauch wird den Aleviten im 16. Jahrhundert zum Verhängnis: Die sunnitische Obrigkeit im Osmanischen Reich will das konkurrierende Alevitentum zurückdrängen und wirft ihm sexuelle Orgien sowie Inzest vor. Bei Pogromen sterben mehr als 40.000 Aleviten. Und bis heute vertritt das Diyanet, das Türkische Amt für religiöse Angelegenheiten, nur den sunnitischen Islam.

Immer wieder fragen sich Deutsche und Aleviten selbst: Gehören wir, die Aleviten, zum Islam? "Diese Diskussion führen wir nicht. Jeder Alevit ist frei, sich selbst einzuordnen", erklärt Ismail Kaplan. Und Turgut Öker, Erster Vorsitzender der Alevitischen Gemeinde, ergänzt: "Die einen bezeichnen sich als islamische Aleviten. Die anderen – und das sind nicht wenige – sagen, dass das Alevitentum eine selbstständige Glaubensgemeinschaft ist, die mit dem Islam nichts zu tun hat."  Die Aleviten stehen dem geschriebenen Koran kritisch gegenüber, da viele Suren nachträglich ergänzt wurden. Und ihr theologisches Denken ist stark von der islamischen Mystik beeinflusst: Gottes Größe finde einfach nicht in vier Büchern Platz.

Stand: 25.11.09