Abt Suger will mehr Licht in seiner neuen Kirche. Der bisherige Bau des Gotteshauses mit seinen dicken Mauern und kleinen Fenstern kommt dem Vorsteher des Klosters St. Denis bei Paris viel zu dunkel vor. Immerhin kann er sich auf einen Text berufen, der kurz zuvor in Frankreich gefunden worden ist und dem Heiligen Dionysius als mutmaßlich erstem Bischof von Paris zugeschrieben wird. In dem Schriftstück wird die Herrlichkeit Gottes mit dem Strahlen des Lichtes gleichgesetzt.Das irdische Licht im Innenraum der Kirche solle den Gläubigen "zum wahren Licht Gottes" leiten, beschreibt Suger seine Idee. Es sei ein Projekt mit läuternder Wirkung: "Der träge Geist hebt sich durch das Stoffliche empor zum Wahren. Der zuvor ins Irdische Verstrickte wird aufgerichtet, wenn er dieses Licht erblickt."
Aber der Neubau von St. Denis dient nicht nur erhabenen Gefühlen. Die Kirche ist die traditionelle Grabstätte der französischen Herrscher. Das neue Gotteshaus soll die angeschlagene französische Monarchie stärken und als Symbol politischer und kirchlicher Strahlkraft die aufbegehrenden Herzogtümer und Grafschaften besänftigen. Und sie soll der Welt zeigen, was für ein großartiger Abt Suger ist.Zu diesen Zwecken schart der Geistliche die besten Baumeister seiner Zeit um sich. Er lässt die alte Bastei abreißen und einen Bau mit schmalen Mauern und großen Fenstern errichten, durch die das erleuchtende Licht der Sonne ungehindert eindringen kann. Am 11. Juni 1144, also sieben Jahre nach der Grundsteinlegung des Westwerks, wird der Chor von St. Denis feierlich eingeweiht. In keiner anderen Kirche der Christenheit stehen die Pfeiler so weit auseinander, wirken die Wände so leicht und sind die Fenster so groß.
Tatsächlich trägt der elegante Bau Sugers Ruhm in die Welt. Während des 2. Kreuzzugs vertritt er sogar zeitweise den König als Regenten. St. Denis wird zur zentralen Kirche Frankreichs. Aber die kühne Bauweise fordert später ihren Tribut: Rund ein Jahrhundert nach der Fertigstellung muss der obere Bereich des Chors abgetragen und durch einen Neubau ersetzt werden.Trotzdem setzt die lichte Bauweise der Kirche auch noch im 13. Jahrhundert Maßstäbe. Obgleich ihre Architektur heute eher als Vervollkommnung der Romanik gilt, weist sie doch den Weg zur Gotik, deren Blütezeit dank neuer technischer Möglichkeiten von 1215 bis 1260 reicht. In den dreischiffigen Kathedralen von Chartres, Reims und Amiens findet die neue, himmelstürmende Architektur mit ihren spitz zulaufenden Fenstern aus bunt bemaltem Glas und ihrem luftigen, durch ein Gewirr von Außenpfeilern getragenen Mauerskelett ihre Vollendung.
Stand: 11.06.09