"Da steh ich nun, ich armer Tor", mag sich August Klingemann, Direktor des Herzoglichen Hoftheaters zu Braunschweig, gedacht haben. Mit dürren Worten hat ihm sein ebenso wortkarger wie prunksüchtiger Landesherr, Herzog Karl II. von Braunschweig, einen wahren Mühlstein an den Hals gehängt: "Ich Ihnen sagen, wollen Goethes Faust geben. Mir morgen das Buch schicken!" Ausgerechnet den Faust, dieses literarische Heiligtum, das doch wegen seiner Fülle und vielgestaltigen Handlungsorte als wahrhaft unspielbar gilt! Zwar gab es bereits 1819 in Berlin umjubelte dramatische Aufführungen einzelner Szenen. Doch eine Inszenierung des Gesamtwerks, an dem Johann Wolfgang von Goethe immerhin von seinem 27. bis zum 51. Lebensjahr gefeilt hatte, traute sich bislang niemand zu.
Der in Weimar ansässige Geheimrat selbst, um Erlaubnis ersucht, reagiert zu Klingemanns Erleichterung eher gelangweilt auf das Vorhaben, seine Mammut-Tragödie auf die Bühne zu stellen: "Ich bekümmere mich seit langer Zeit gar nicht mehr um das Theater. Machen Sie daher mit meinem Faust, was Sie wollen." 1770 hatte Goethe mit der Arbeit am Faust begonnen. 17 Jahre später erschien eine erste Fassung, später als Urfaust bekannt, in der zunächst die Gretchentragödie im Mittelpunkt stand und der Pakt mit dem Teufel noch fehlte. Eine zweite, erweiterte Fassung, veröffentlichte der Dichterfürst 1790 unter dem Titel "Faust. Ein Fragment". In den folgenden 18 Jahren fügt Goethe weitere Szenen hinzu und lässt sein Opus Magnum 1808 als "Faust. Eine Tragödie" in Druck gehen. Der Tragödie zweiter Teil (1831) ist August Klingemann noch unbekannt, als er sich nun 1828 daran macht, die zum Menschheitsdrama zwischen Himmel und Hölle gewachsene Dichtung in Knittelversen für die Bühne einzukürzen
Vieles fällt dabei dem Rotstift zum Opfer, vor allem allzu deftige oder anzügliche Passagen des gern handfest und volksnah formulierenden Großdichters. Ebenso müssen der Zensur wegen alle kirchenkritischen und auf Gott verweisenden Verse aus dem Werk des Freigeists und Logen-Mitglieds Goethe entfernt werden. Zwei Monate ringt Klingemann mit sich, eine inszenierbare Textfassung zu erstellen, ohne zu zerstören, was Goethes Drama im Innersten zusammenhält. So entsteht eine gegenüber dem Original radikal veränderte, "für die Bühne redigirte Fassung in sechs Abtheilungen". Am 19. Januar 1828 endlich hebt sich im Braunschweiger Hoftheater der Vorhang zu einer dreieinhalb Stunden dauernden Faust-Uraufführung, für die August Klingemann sowohl vom Publikum als auch von Herzog Karl viel Beifall erntet. Johann Wolfgang von Goethe selbst allerdings bleibt diesem Ereignis ebenso fern wie der Aufführung am Hoftheater zu Weimar im folgenden Jahr, anlässlich seines 80. Geburtstags. Gekränkt darüber, dass man ihn ausgerechnet bei der Vorbereitung der Premiere in seiner Heimatstadt nicht konsultiert hat, notiert er lapidar in seinem Tagebuch: "Abends allein. Aufführung von Faust im Theater."
Stand: 19.01.09