An Weihnachten 1979 marschiert die Rote Armee in Afghanistan ein. Die Sowjetunion sorgt sich offenbar um die Stabilität ihrer Südgrenze, denn das prokommunistische Regime in Kabul steht im Bürgerkrieg mit muslimischen Mudschaheddin-Gruppen. Für den Westen handelt es sich um eine sowjetische Aggression. US-Präsident Jimmy Carter stellt dem sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew ein Ultimatum: Entweder Truppenabzug aus Kabul bis zum 20. Februar 1980 oder US-Boykott der Olympischen Spiele im folgenden Sommer in Moskau. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) lehnt allerdings jeden politischen Eingriff in den Sport ab. Washington fordert daher Solidarität von den Verbündeten ein. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) schätzt die Interessen der bundesdeutschen Sportler schließlich geringer ein als die Bündnistreue zu den USA. Nach einem Treffen mit Schmidt sagt Athleten-Sprecher und Florettfechter Thomas Bach: "Das stechendste Argument des Bundeskanzlers war wohl, dass er die Befürchtung aussprach, eine Teilnahme der Bundesrepublik würde isolationistische Tendenzen in den USA hervorrufen." Solche Tendenzen gefährdeten die Nato und somit die Sicherheit der Bundesrepublik.
Politisch wirkungslos
Die Drohkulisse zeigt Wirkung. Der Bundestag empfiehlt im April 1980 dem Nationalen Olympischen Komitee (NOK) den Verzicht. Im Mai 1980 stimmen die Funktionäre des NOK für den Boykott. Es ist ein Votum gegen die Athleten, die mehrheitlich für eine Teilnahme geworben hatten. Als am 19. Juli 1980 die 22. Olympischen Sommerspiele in Moskau beginnen, sind rund 5.200 Sportler aus 81 Ländern anwesend. Doch rund 2.000 Athleten aus 42 Staaten - darunter auch China, Japan und Kanada - fehlen. Moskau gibt den friedliebenden Gastgeber. Wie von vielen befürchtet, bleibt der Boykott politisch wirkungslos. Die Sowjetunion wird ihre Truppen erst neun Jahre später aus Afghanistan abziehen.
Olympische Krise verstärkt
Sportlich hingegen sind die Moskauer Spiele, die am 4. August 1980 enden, ein Erfolg: Es werden 36 Welt- und 74 Olympiarekorde verzeichnet. Deshalb trauern jene Athleten, die zu Hause bleiben mussten, um möglicherweise entgangene Medaillen: "Für uns ganz besonders bitter war, dass der Boykott nicht auf allen Gebieten konsequent durchgezogen worden ist, sondern letzten Endes nur im Bereich des Sports weiterverfolgt wurde", sagt Heiner Brand, Bundestrainer der deutschen Handball-Nationalmannschaft rückblickend. Er gehörte 1980 als Spieler zum westdeutschen Handball-Team, das als amtierender Weltmeister einer der Favoriten auf olympisches Gold war.
Der Boykott habe die Krise der olympischen Bewegung verstärkt, urteilt Sportsoziologe Sven Güldenpfennig: "Um 1980 herum standen die Spiele vor dem Exitus." Olympia wird damals zwischen politischen Interessen zerrieben und ist mit öffentlichen Geldern nicht mehr finanzierbar. In dieser Situation wählt das IOC in Moskau den Spanier Antonio Samaranch zum neuen Präsidenten. Sein Leitmotiv: "Wir brauchen Kapital, um die Spiele zu veranstalten." Samaranch öffnet Olympia für private Investoren - mit weitreichenden Folgen: "Die politische Erpressbarkeit ist durch die starke Mobilisierung ökonomischer Mittel neutralisiert worden", behauptet Güldenpfennig. Die Spiele in Los Angeles vier Jahre später werden erstmals über Sponsoren finanziert - und als Revanche von der Sowjetunion boykottiert.
Stand: 19.07.10