Was liegt in nahezu jedem Haushalt dutzendweise achtlos zusammengeknüllt unter die Spüle, in der Küchenbank oder der Abstellkammer? Plastiktüten. Bis zu zehn Einkaufstouren soll ein vernünftig produziertes Exemplar überstehen, versprechen die Hersteller. Doch die meisten Tüten erfüllen ihre Kernaufgabe als Konsum-Tragetasche nur einmal; dann dienen sie uns weiter als Instant-Regenhaube oder Schmutzwäschesack, als Müllbeutel, Winter-Blumenschutz oder unauffällige Tarnung für Geldtransporte. Beim Plastiktütenpapst Heinz Schmidt-Bachem füllen sogar an die 100.000 Exemplare dieses so praktischen wie omnipräsenten Alltagsgegenstands die Schränke - allerdings sauber geordnet und gefaltet.
Idee mit vielen Vätern
Die ältesten Raritäten im Tüten-Fundus des Wirtschaftshistorikers und Plastiktütensammlers Schmidt-Bachem stammen aus dem Jahr 1955. Es sind – noch trägerlose – Folienbeutel, in denen Kartoffeln verkauft wurden. Mit dem Aufkommen der Supermärkte in den USA, weiß Schmidt-Bachem, entstand die Idee, daraus Plastik-Tragetaschen zu entwickeln. Auch in Europa wird mit Aufblühen von Wirtschaftswunder und Konsumleben nach einer industriell herstellbaren Kunststoff-Alternative zur herkömmlichen Papiertüte geforscht. So behauptet etwa ein gewisser William Hamilton, am 20. August 1960 in Schweden das erste Patent für eine Plastiktüte mit Handgriff erhalten zu haben. Doch die Idee liegt allerorten in der Luft und hat wohl viele Väter. In Deutschland, so hat Tüten-Experte Schmidt-Bachem recherchiert, trägt das erste technisch verwertbare Patent für eine "Plastiktragetasche" das Datum 1. November 1960.
Jute statt Plastik
Wenige Monate später führt Horten als erstes deutsches Warenhaus die zukunftsträchtige Transporthilfe ein. Binnen kurzem ist die Premierenauflage von 80.000 Tüten unter die Leute gebracht. Bis zur ersten Ölkrise 1973 erlebt das Erdölprodukt Plastiktüte in Kaufhäusern und Supermärkten einen ungebremsten Siegeszug. Mit aufkommendem ökologischen Bewusstsein aber gerät sie zunehmend in Verruf, wird zum Symbol für Rohstoffvergeudung und Umweltverschmutzung. "Jute statt Plastik" heißt nun das Motto. Ein Verbot kann sich zwar nicht durchsetzen, dafür wird die bisherige Gratis-Beigabe nun kostenpflichtig.Ihrer Beliebtheit schaden diese Dämpfer kaum. Mit steigendem Konsum stellt auch die Produktion von Plastiktüten immer neue Rekordmarken auf. 600 Milliarden Stück werden derzeit schätzungsweise weltweit hergestellt. Die Wirtschafts-Wundertüte ist und bleibt unverwüstlich – selbst wenn sie reißt. Der Kunststoff verfällt immerhin erst nach rund 500 Jahren.
Stand: 20.08.10