Stichtag

23. Dezember 2010 - Vor 90 Jahren: Deutsche Erstaufführung von Schnitzlers "Reigen"

Vor der deutschen Erstaufführung von Arthur Schnitzlers Theaterstück "Reigen" am 23. Dezember 1920 tritt Gertrud Eysoldt vor den Vorhang. Die Direktorin des Kleinen Schauspielhauses in Berlin-Charlottenburg informiert das Publikum über ein Aufführungsverbot des Kultusministeriums, das am Nachmittag bei ihr eingetroffen ist. Und sie erklärt, die drohende Haftstrafe für die Freiheit der Kunst in Kauf zu nehmen. So sehen die Berliner Zuschauer an diesem Abend zum ersten Mal Schnitzlers Kreislauf flüchtiger sexueller Begegnungen, der zum größten Skandal der Theatergeschichte werden soll.

Die Stufenleiter hochgeschlafen

Zehn Dialoge von zehn Figuren bekommt das Publikum serviert: Figuren, die von ihren Trieben geleitet von einem Bett ins nächste taumeln. Die Dirne treibt es mit dem Soldaten, der Soldat verführt das Stubenmädchen, das seinerseits dem jungen Herrn zu Diensten ist. So bewegt sich der Reigen die soziale Stufenleiter empor, bis schließlich der Graf mit einem Filmriss verkatert neben der Dirne aufwacht und hofft, er sei "gleich da auf den Diwan herg'fallen und nichts is g'schehn".
Mit Erotik hat Schnitzlers Szenenfolge nichts zu tun, im Gegenteil: Schonungslos wird die Liebe im Wien des Fin de Siècle als Ware bloßgestellt, anhand derer die Protagonisten in einem rauschenden Totentanz ohne Gefühle ihren gesellschaftliche Wert bemessen. "Glück gibt's nicht", wird Schnitzler den Grafen sagen lassen. Und: "Genuss...Rausch... das ist etwas Sicheres".

Dekadenter Spiegel der Gesellschaft

Hintergrund des "Reigen" ist die zerfallende Monarchie Österreich-Ungarns am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Ihr setzt Schnitzler, im Privatleben selbst ein Charmeur und Lebemann, ein dekadentes Denkmal. Weil er den Skandal vorausahnt, gibt er den 1896 begonnenen "Reigen" zunächst für ausgewählte Freunde als Privatdruck heraus. Erst 1903 beschließt er, das Stück doch zu veröffentlichen. Begleitet von Geschrei und Prozessen avanciert es schnell zum Bestseller und wird 1912 ohne Schnitzlers Genehmigung in Budapest uraufgeführt. Erst acht Jahre später kann Regisseur Max Reinhardt den Autor zur deutschen Erstraufführung in Berlin überreden.
In Berlin darf der "Reigen" zunächst weitergespielt werden, nachdem die Richter nichts Schlüpfriges auf der Bühne erkennen können. Weitere Aufführungen in Wien und München sind weitaus biederer gehalten; trotzdem fliegen Stinkbomben und faule Eier, Zeitungen wie der "Volkssturm" berichten offen antisemitisch über die Ausschreitungen, in denen gute Bürger "auf die anwesenden Schweine, Schieber und Dirnen, losgedroschen" hätten: "Die flüchtenden jüdischen Zuschauer mussten regelrecht Spießruten laufen".

Verbot vom Autor

"Unter den zahlreichen Affären meines Lebens ist es wohl diese letzte, in der Verlogenheit, Feigheit und Unverstand sich selbst übertroffen haben", wird Schnitzler über den nach der deutschen Erstaufführung angestrengten "Reigenprozess" später notieren. Auch wenn alle Angeklagten, darunter Gertrud Eysoldt, freigesprochen werden, wird er 1922 alle weiteren Aufführungen des "Reigen" resignierend verbieten. Erst 1982 wird das Stück auf der Bühne wieder gezeigt.

Stand: 23.12.10