Zum Feierabend Bier oder Prosecco, vor dem Ausgehen zum Anheizen einen Kurzen, und bei der Party dann Cocktails oder Schampus: Ganz alltägliche und akzeptierte Trinkgewohnheiten, denen Millionen Deutsche mehr oder weniger häufig frönen. Wann und warum sie für die einen irgendwann zum Problem werden, andere aber Maß halten können, ist schwer bestimmbar. Nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für Suchtexperten, wie der Kölner Psychologen Michael Klein bestätigt: "Man hat in der Forschung noch nie eine einzige Alkoholiker-Persönlichkeit gefunden." Jeden kann es also treffen, zu vielschichtig sind unsere individuellen Lebensumstände. Klar ist aber: Einmal alkoholabhängig, bleibt man es ein Leben lang. Auch trockene Alkoholiker können die Sucht nie endgültig besiegen, sie können ihr nur jeden Tag aufs Neue Widerstand leisten. Rund 40.000 der schätzungsweise sechs Millionen deutschen Alkoholabhängigen holen sich die Kraft dazu in Gesprächen – bei den Selbsthilfegruppen der Anonymen Alkoholiker (AA).
"Ich brauche ihn, wie er mich braucht"
Entstanden ist die heute weltweit größte Selbsthilfeorganisation im US-Bundesstaat Ohio, drei Jahre nach Abschaffung der Prohibition. Der lange schwerst alkoholabhängige 39-jährige Börsenmakler Bill Wilson aus New York ist nach zahlreichen Entzügen endlich trocken. Am 10. Juni 1935, nach einem frustrierenden Arbeitstag in dem Provinznest Akron, übermannt ihn an der Hotelbar die Sucht. Doch statt sich dem Suff zu ergeben, bittet Bill Wilson einen Pfarrer, ihm einen sachkundigen Gesprächspartner zu nennen. "Ich dachte, ich brauch' einen anderen Alkoholiker, um mit ihm zu reden. Ich brauche ihn genauso, wie er mich braucht," erinnert sich Wilson. Der Pfarrer vermittelt ihn an den 55-jährigen Dr. Bob Holbrook Smith, einen angesehenen Chirurgen, der selbst jahrelang erfolglos gegen die Sucht gekämpft hat. "Bill redete in meiner Sprache mit mir. Er wusste alle Antworten – und gewiss hatte er sie nicht aus Büchern", schreibt Wilson in seinen Erinnerungen. Bill und Bob stellen fest, wie sehr ihnen das Gespräch von gleich zu gleich hilft, den Zwang zu trinken zu überwinden. Es ist der Tag, an dem die Anonymen Alkoholiker begründet werden.
In zwölf Schritten zur Genesung
Bill und Dr. Bob verbreiten ihr Selbsthilfekonzept und gründen neue Gruppen. "Wir geben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind und unser Leben nicht mehr meistern können." So beginnen die von den AA-Urvätern entwickelten "Zwölf Schritte" zur Genesung. 1939 im Big Book, dem Blauen Buch, veröffentlicht, bilden sie mit den "Zwölf Traditionen" das Credo der Anonymen Alkoholiker. Zu den strikt eingehaltenen Traditionen gehören völlige organisatorische und finanzielle Unabhängigkeit aller Gruppen sowie der Verzicht auf jede Art von Öffentlichkeit und Hierarchie. In 140 Ländern finden Alkoholkranke heute Unterstützung in lokalen AA-Gruppen, allein in Deutschland gibt es etwa 2.700. Ähnlich verbreitet ist der AA-Ableger Al-Anon, 1951 gegründet von den Ehefrauen von Bill und Dr. Bob.Lois und Anne hatten erkannt: Alkoholismus ist eine Familienkrankheit. Sie initiieren die Selbsthilfegruppen für Angehörige von Trinkern, die sich in den Meetings nach AA-Vorbild ihre Leidensgeschichten erzählen. So erkennen die Betroffenen typische Krankheitsmuster und mögliche Auswege aus dem vermeintlichen Teufelskreis des Alkohols.
Stand: 10.06.10