Bis zum Skelett abgemagerte Kinder mit vor Hunger aufgequollenen Bäuchen: Ende der 1960er Jahre schockieren Fotos von sogenannten Biafra-Kindern aus Westafrika die Weltöffentlichkeit. Die hungernden Kinder sind Opfer eines Krieges zwischen Nigeria und der Provinz Biafra, die sich von Nigeria abspalten will. Die Kinderbilder werden dabei von biafranischen Machthabern als Mittel der Propaganda eingesetzt. Auslöser für den Bürgerkrieg ist ein Militärputsch im Januar 1966. Nigeria ist damals wie heute das größte, mächtigste und bevölkerungsreichste Land Westafrikas. Die britischen Kolonialherren hatten mehrere Völker in dem neuen Staat zusammengefasst. Die beiden größten Stämme, die Yoruba und die Igbo, ringen um die Vorherrschaft. Die meisten Putschisten gehören zu den Igbo aus dem Südosten Nigerias. Sie gewinnen aber nicht und sind Racheakten ausgesetzt. Bei Pogromen sterben hunderte, anderen Angaben zufolge sogar tausende Menschen.
Die Igbo, die im Norden Nigerias wohnen, flüchten zu Tausenden in das Land ihrer Vorfahren im Südosten - in ein Gebiet mit Zugang zum Meer und zu Ölquellen. Die Zentralregierung in der Hauptstadt Lagos schneidet daraufhin das Land neu zu. Die Erdölquellen werden vom Igbo-Gebiet abgetrennt. Daraufhin ruft Oberst Ojukwu am 30. Mai 1967 die Unabhängigkeit der Provinz aus. Auf alten Landkarten finden die Igbo einen Namen für das Gebiet: Biafra. Einen Monat später schickt die Zentralregierung unter Yakubu Gowon Truppen nach Biafra und riegelt das Gebiet ab. Lebensmittel können nicht mehr eingeführt werden, die Hungerkatastrophe beginnt. Dass die Welt davon erfährt, ist Kalkül: "Es gab tatsächlich eine Medienagentur in Genf, die systematisch für die Provinz-Regierung in Biafra Öffentlichkeitsarbeit gemacht hat", erklärt Afrika-Historiker Axel Harneit-Sievers, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kenia. "Ein gewisser Zynismus ist der Regierung Ojukwu auch tatsächlich vorzuwerfen." Chukwuemeka Odumegwu Ojukwu habe den Hunger zwar nicht verursacht, die Hungeropfer aber in Kauf genommen, um sein politisches Ziel durchzusetzen, so Harneit-Sievers.
Die Strategie Biafras, mit den Fotos westlichen Rückhalt zu erzwingen, funktioniert nicht. Politische Unterstützung erhält Biafra kaum. Nur vier Staaten - darunter Tansania - erkennen es als unabhängigen Staat an. Militärisch stellt sich zwar Frankreich an die Seite von Biafra, aber mehr aus Eigeninteresse als aus Fürsorge für das kleine Land. Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler schreibt in seinem Buch "Der Hass auf den Westen", dass Ölfirmen den Biafra-Krieg angeheizt hätten: die französische "Elf" auf biafranischer Seite und britische "Shell" auf nigerianischer Seite.Anders als die meisten Kriege in Afrika, ist der Biafra-Krieg keine Folge des Kalten Krieges. Die USA halten sich heraus, die Sowjetunion liefert allerdings Waffen an Nigeria. Da Biafra Waffen von Israel bekommt, welche ursprünglich ebenfalls aus russischen Munitionsfabriken stammen, beschießen sich die Soldaten beider Seiten mit Geschossen gleicher Herkunft. Mehr als eine Million Menschen, so schätzt man, sterben während des Bürgerkrieges an Hunger. Rund 700.000 werden bei Kampfhandlungen getötet. Am 15. Januar 1970 kapituliert Biafra. Es wird von der Landkarte gestrichen und ist wieder ein Teil Nigerias. In Afrika bleibt der Biafra-Krieg der bisher einzige Versuch, die Grenzen, die die Kolonialherren willkürlich gezogen haben, gewaltsam zu verändern.
Stand: 15.01.10