Ganz Kiel ist in Aufregung: Der Kaiser kommt. Wilhelm II. wird den eben fertiggestellten Kanal durch Schleswig-Holstein persönlich mit seiner Yacht "Hohenzollern" befahren - von der Elbe-Mündung an der Nordsee bis nach Kiel an der Ostsee. Die künstliche Wasserstraße ist knapp 100 Kilometer lang. In Kiel müssen während der Vorbereitung des großen Tages sogar die Kühe weichen: "Herr Stoltenberg, Zimmermeister, hatte sämtliche Kühe von seiner [...] Koppel entfernt", meldet die Presse. "Nun konnte er 1.200 Sitze mit vorzüglicher Aussicht auf den Hafen annoncieren." Einen Tag vor der Einweihung am 21. Juni 1895 schippert der Kaiser bei Brunsbüttel an der Elbe los. Die einzig größere Stadt unterwegs ist Rendsburg. "Die Musik intoniert 'Heil dir im Siegerkranz'", meldet der Korrespondent des Berliner "Kleinen Journals" über die Vorbeifahrt des Kaisers. "Der Monarch im weißen Tropenrock mit schwarzer Mütze stand allein oben auf der Kommandobrücke und grüßte fortwährend nach dem Ufer hin."
Ersparnis von rund 500 Kilometern
Der Kanal zwischen Nord- und Ostsee bietet eine enorme Abkürzung für den Schiffsverkehr. Im Schnitt beträgt die Ersparnis rund 500 Kilometer. Außerdem ist der neue Weg viel sicherer als die gefährliche Fahrt um Skagen im Norden Dänemarks. Dort gibt es Untiefen und schwierige Windverhältnisse. In jeder Epoche suchen deshalb Seefahrer nach einer Lösung. Schon die Wikinger nutzen eine Abkürzung: Sie fahren von der Ostsee die Schlei hinauf und über die Treene und die Eider Richtung Nordsee wieder hinab. Die 15 Kilometer Land dazwischen überwinden die Wikinger, indem sie ihre Schiffe ziehen - mit Hilfe von Baumstämmen, die als Rollen dienen. 1784 lässt der Dänenkönig Christian VII. von Kiel nach Rendsburg den Eider-Kanal bauen. So gibt es die Wikinger-Route ohne Landunterbrechung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg umbenannt
Später, als Schleswig-Holstein zum Deutschen Kaiserreich gehört, hat der Hamburger Kaufmann Hermann Dahlström die Idee für einen neuen Riesenkanal für größere Schiffe. Er rechnet 1878 vor, dass der Kanal seine Betriebskosten durch Gebühren decken könnte und für die Wirtschaft des Reiches von großem Nutzen wäre. Reichskanzler Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm I. unterstützen den Vorschlag. Denn ein solcher Kanal ermöglicht es deutschen Kriegsschiffen, zwischen Nord- und Ostsee zu pendeln, ohne durch ausländische Gewässer zu müssen. Durch ein Reichsgesetz wird der Kanalbau 1886 beschlossen, im Jahr darauf wird in Holtenau bei Kiel der Grundstein gelegt. Der Bau dauert acht Jahre lang. Über 7.000 Arbeitskräfte sind im Einsatz, darunter viele Gastarbeiter aus Polen und Italien. Die Baukosten betragen 156 Millionen Goldmark. Bei der Eröffnung tauft Kaiser Wilhelm II. den Nord-Ostsee-Kanal - zu Ehren seines Großvaters Wilhelm I. - auf den Namen Kaiser-Wilhelm-Kanal.Noch vor dem Ersten Weltkrieg wird der Kanal vertieft und seine Breite verdoppelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird er umbenannt in Nord-Ostsee-Kanal - und noch einmal um gut die Hälfte auf nun über 160 Meter verbreitert. Mit rund 40.000 Schiffen pro Jahr ist der Kanal mittlerweile die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt.
Stand: 21.06.10