Helga kocht vor Wut. Gerade mussten die Wände ihrer Schule zum vierten Mal von Graffiti befreit werden. "Kreativität ist bewundernswert", schreibt sie in einem Brief an ihre Freundin Sophia, "aber die Leute sollten Ausdrucksformen finden, die der Gesellschaft keine zusätzlichen Kosten aufbürden." Sophia kontert: "Haben dich die Leute, die Reklametafeln aufstellen, um Erlaubnis gebeten?", heißt es in ihrem Antwortschreiben.
Aber was wollen Helga und Sophia eigentlich sagen? Ist die Absicht ihrer Briefe, zu erklären, was Graffiti eigentlich ist? Wollen Sie die Popularität der Kunstform beweisen - oder vielmehr illustrieren, wie viel Geld zur Entfernung der Schmierereien ausgegeben wird? Von welchen Kosten ist bei Helga überhaupt die Rede? Und: Warum verweist Sophia auf die Werbung? Diese und ähnliche Fragen finden sich im Programme for International Student Assessement (PISA). Mit seiner Hilfe wollen 32 Industriestaaten der OECD testen, ob ihre Schüler - und damit ihre Gesellschaften - im globalisierten Arbeitsalltag künftig überleben können.
"Sind Deutschlands Schüler doof"?
Im ersten Teil der PISA-Studie, deren Ergebnisse am 4. Dezember 2001 veröffentlicht werden, geht es um Lese- und Textverständnis. Weltweit beteiligen sich hunderttausende von 15-Jährigen, am erfolgreichsten sind Schüler aus Finnland, Korea, Japan und Kanada. In Deutschlands Schulen hingegen kommen die Botschaften von Helga und Sophia offenbar nicht an. 20 Prozent der Schüler verstehen ihre Briefe nur ungenügend, bei Kindern an- und ungelernter Arbeiter sind es sogar doppelt so viele. Im Bereich der Lesefähigkeit stellen die PISA-Macher Deutschland deshalb ungenügende Noten aus. Im internationalen Vergleich landet das ehemalige Land der Dichter und Denker abgeschlagen im letzten Drittel. In keinem anderen Land hängen soziale Herkunft und schulische Leistung zudem so eng zusammen. "Eine deutsche Bildungskatastrophe", lautet das plakative Resümee einer Tageszeitung. Und eine andere fragt: "Sind Deutschlands Schüler doof"?
Zwei Jahre später werden deutschen Schülern bei einer Nachfolgestudie Fragen zu Mathematik und Problemlösung gestellt. Vor allem im zweiten Bereich können sie deutlich zulegen, Deutschland rückt auf Platz 18 vor. Zu wenig, sagen Kritiker des Bildungssystems - und ziehen aus den Zahlen je nach politischer Ausrichtung die unterschiedlichsten Schlüsse. Die Angst um den Wirtschaftsstandort Deutschland schwingt in den politischen Debatten allerdings immer mit. Die meisten Bildungsforscher fordern eine radikale Umstrukturierung des Bildungssystems, bei dem schlechte und gute Schüler nicht bereits nach der vierten Klasse unterschiedliche Wege gehen. "Ein längeres gemeinsames Lernen wäre eine Alternative", sagt etwa der Essener Wissenschaftler Klaus Klemm. "Aber ich sehe natürlich auch, dass das im Augenblick und wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren kaum mehrheitsfähig ist." 2007 werden die Auswertungen im Bereich der Naturwissenschaften, dem dritten Teil der PISA-Studie, veröffentlicht werden.
Stand: 04.12.06