Es ist Nacht, im Licht der Straßenlaternen glänzt das Kopfsteinpflaster. Plötzlich taucht der Bösewicht unter einem dunklen Torbogen auf. Nach fast einer Stunde sehen wir dieses Gesicht zum ersten Mal: Orson Welles spielt Harry Lime, einen der fiesesten Gangster der Filmgeschichte. Mit der berühmten Szene aus "Der dritte Mann" beweist der britische Regisseur Carol Reed, dass er Meister seines Fachs ist. Mit harten Schlagschatten, einer schräggestellten Kamera und unheimlicher Zither-Musik inszeniert er das trostlose und zerbombte Wien der Nachkriegszeit als heimliche Hauptfigur des Films.
Eigentlich spielt Orson Welles in dem Unterwelt-Thriller nur eine Nebenfigur. Held des Films ist der naive Amerikaner und Western-Autor Holly Martins (Joseph Cotten), der seinen Jugendfreund Harry Lime in Wien besuchen will. Harry wird jedoch am Tag seiner Ankunft beerdigt, er soll überfahren worden sein. Holly will seinen Freund rächen und sucht nach einem geheimnisvollen "dritten Mann", der Zeuge des Unfalls war. Auf seiner Jagd muss Holly feststellen, dass Harry selbst der "dritte Mann" ist: Er lebt und ist ein gewissenloser Penizillinschmuggler. Beim Showdown in den Wiener Kloaken treffen die beiden ehemaligen Freunde aufeinander.
Schriftsteller Graham Greene recherchiert für das Drehbuch im Februar 1948 in Wien. Die Prachtbauten der Donaumonarchie liegen in Trümmern, der Stephansdom ist zerstört. Wie Berlin ist Wien in vier Sektoren aufgeteilt. In der Bar des Militärhotels "Sacher" erfährt er viel über die besetzte Stadt - die Geschichten über den Schwarzmarkt, Schmuggler und die Kanalisation fließen ins Drehbuch ein.
Im Herbst 1948 beginnen die Dreharbeiten in Wien - zwischen Ruinen und Geröllhalden. Noch bevor die Stars eintreffen, wird bereits Tag und Nacht mit Doubles gearbeitet. Reed hat drei Drehteams, für die Morgen-, Mittags- und Nachtschicht. Er führt bei allen selbst Regie, ist praktisch rund um die Uhr am Set. Er will die absolute Kontrolle über den Film, um durchzuhalten, nimmt er das Aufputschmittel Benzedrin. Reed muss auch seinen Star Orson Welles gegenüber den Produzenten durchsetzen: Er gilt als unzuverlässig und exzentrisch. Tatsächlich benimmt sich Welles wie eine zickige Diva: Er kommt oft zu spät, weiß alles besser und weigert sich in der Kanalisation zu drehen. Von der legendären Flucht durch die Wiener Kloaken hat Orson Welles nur einen Bruchteil selbst gespielt: Meist rennt ein Statist durch die feuchten Gänge.
Die Strapazen lohnen sich für Regisseur Carol Reed. Am 2. September 1949 wird "Der dritte Mann" uraufgeführt. Filmwissenschaftler sagen damals wie heute, an diesem "Film noir" stimme einfach alles: das vielschichtige Drehbuch; die bis in die Nebenrollen großartige Besetzung; die ungewöhnliche Zither-Musik und die raffinierte Kameraführung. Das "British Film Institute " wählt den Film 1999 zum besten englischen Film des Jahrhunderts.
Stand: 02.09.09