Vom preußischen Beamten zum sozial engagierten "Arbeiter-Bischof" von Mainz: Wilhelm Emmanuel von Ketteler hat einen ungewöhnlichen Lebenslauf. Typisch für den am 25. Dezember 1811 geborenen Westfalen ist sein überschäumendes Temperament: "Er war ein unbeherrschtes, zu Jähzorn neigendes Kind", sagt sein Biograf Hermann-Josef Große Kracht. "Das war ein Charakterzug, der sein ganzes Leben entscheidend geprägt hat." Als sechstes von neun Kindern einer begüterten Adelsfamilie wächst Ketteler auf Schloss Harkotten östlich von Münster auf. Die Eltern können Wilhelm kaum bändigen und schicken ihn auf ein Jesuiten-Internat in der Schweiz.
Nach dem Abitur studiert er Jura und tritt in eine schlagende Verbindung ein. Gleich beim ersten Fechtkampf schlägt ihm ein Kommilitone die Nasenspitze ab. Ein Stück Haut aus dem Oberarm wird als Ersatz angenäht. Ketteler, der ab 1835 als Rechtsreferendar in Münster arbeitet, geht zur Jagd und ist ein gern gesehener Partygast. Das ändert sich mit dem sogenannten Kölner Ereignis. Im November 1837 wird der Kölner Erzbischof, Clemens August von Droste zu Vischering, in Haft genommen, weil er sich den preußischen Gesetzen für konfessionelle Mischehen nicht beugen will. Ketteler empört sich über den Eingriff in das kirchliche Leben und quittiert den Staatsdienst: "Ich will einem Staate, der Aufopferung meines schon so oft verratenen Gewissens fordert, nicht dienen."
"Nur Jesus Christus kann helfen"
Mit knapp 30 Jahren studiert Ketteler nun Theologie - obwohl er zunächst ernstliche Zweifel an seiner Eignung zum Priester hat: "Um mich zum geistlichen Stande würdig umzugestalten, wären größere Wunder erforderlich als Tote auferwecken." Seine erste Stelle als Kaplan tritt er 1844 in Beckum an. Dort wird er mit Armut der einfachen Bevölkerung konfrontiert: "Ich lebe mit und unter dem Volke, ich liebe es in seinen Leiden, in seinen Schmerzen." Er wisse, "welche großen edlen Anlagen unser deutsches Volk von Gott erhalten hat." Mit solchen Aussagen wird Ketteler im Herbst des Revolutionsjahres 1848 eine Berühmtheit. Bereits im Frühjahr ist er als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt worden. 1850 - mit nicht einmal 40 Jahren - wird Ketteler Bischof von Mainz.
Nun kann er sich von leitender Stelle aus seinen beiden Lebensthemen widmen. Zum einen führt er einen Abwehrkampf gegen den Preußischen Staat und dessen Eingriffe in kircheninterne Angelegenheiten. Zum anderen greift er die soziale Frage auf. In den Folgen der Industrialisierung sieht er eine Chance für die katholische Kirche, gesellschaftlich wieder zu erstarken. Denn sie ist die einzige Instanz, die aus Kettelers Sicht die soziale Not beheben kann: "Nur Jesus Christus kann auch in Zukunft dem Arbeiterstande helfen; wenn der Glaube an ihn und seinen Geist die Welt durchdringt, dann ist die Arbeiterfrage gelöst."
Wegbereiter der Katholischen Soziallehre
Ketteler wettert gegen preußische Beamte, liberale Politiker, Protestanten und in antisemitischer Weise auch gegen Juden: "Man weiß und sieht es, wie viele Juden nie arbeiten, sondern nur spazieren gehen, während der arme Landmann immer arbeitet." Gleichzeitig zeigt Ketteler offene Sympathien für den Sozialisten Ferdinand Lassalle. Die Kritiker schießen zurück: "Bischof Ketteler ist kein Politiker, sondern ein ganz gewöhnlicher Demagoge, und zwar, weil er zugleich religiöse und wirtschaftliche Hetzerei treibt", schreibt die liberale "Nationalzeitung". Auch Karl Marx wehrt sich gegen die "katholischen Pfaffen": "Die Hunde kokettieren, z.B. Bischof Ketteler in Mainz, wo es passend scheint, mit der Arbeiterfrage."
Als Mitbegründer der Zentrumspartei sitzt Ketteler 1871 im ersten Reichstag. Er will einen Sozialstaat, fordert Mindestlöhne, kürzere Arbeitszeiten und ein Verbot von Kinderarbeit. Damit wird Ketteler zu einem der Wegbereiter der Katholischen Soziallehre und zum geistigen "Gründervater" der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung. Auch innerkirchlich ist Ketteler unbequem: Beim Ersten Vatikanischen Konzil spricht er sich gegen die päpstliche Unfehlbarkeit aus. Nach einer Rom-Reise stirbt Ketteler am 13. Juli 1877 im Kapuzinerkloster Burghausen am Inn, beigesetzt wird er im Mainzer Dom. 14 Jahre später lobt ihn Otto von Bismarck: "Ohne Ketteler wären wir noch nicht so weit."
Stand: 25.12.2011
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