Graugänse

Stichtag

3. Februar 1937 - "Zeitschrift für Tierpsychologie" erscheint erstmals

Konrad Lorenz' Lieblingsgans Martina hat große dunkle Augen. Als die Graugans aus dem Ei schlüpft, blickt sie den Verhaltensforscher Lorenz an, der in den 1950er-Jahren Studien mit einer Schar Wildgänse betreibt. Martina hält den bärtigen Wissenschaftler für ihre Mutter. "Lange, sehr lange sah mich nun das Gänsekind an. Und als ich eine Bewegung machte und ein kurzes Wort sprach, löste sich mit einem Male die gespannte Aufmerksamkeit, und die winzige Gans grüßte." Das schreibt Lorenz 1983 in seiner Autobiografie "Eigentlich wollte ich Wildgans werden". Martina darf im Schlafzimmer übernachten; sie meldet sich regelmäßig aus dem Körbchen: "Wiwiwi." Und Lorenz, der jahrzehntelang in die Seelen von Enten und Gänsen schaut, antwortet dann schlaftrunken: "Gagaga."

Hunde und Pferde verstehen - für den Zweiten Weltkrieg

Bereits 1936 gründet Konrad Lorenz die "Deutsche Gesellschaft für Tierpsychologie" mit. Am 3. Februar 1937 erscheint Ausgabe Nummer eins ihrer Fachpublikation, der "Zeitschrift für Tierpsychologie". Darin heißt es: "Die Gesellschaft sieht ihre Aufgaben in der Erforschung der Tierseele und der praktischen Auswertung tierpsychologischer Erkenntnisse." An der Gründung der Fachgesellschaft sind auch Vertreter des Heereshundewesens beim Reichskriegsministerium und andere staatliche Stellen beteiligt. Sie wollen Hunde und Pferde besser verstehen, um sie für den Krieg zu trainieren. Im Zweiten Weltkrieg setzt das Deutsche Reich nämlich noch hunderte Kavalleriepferde und Hunde ein. Selbst an den Universitäten wird Tierpsychologie in den 1930er- und 40er-Jahren gelehrt. Die erste Professur erhält der Wissenschaftler Werner Fischel 1941 an der Universität Leipzig; zuvor hat das Oberkommando des Heeres ausdrücklich sein Interesse "an theoretischer wie angewandter tierpsychologischer Forschung an deutschen Hochschulen" bekundet.

Ethologie statt Tierpsychologie

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs gerät die Tierpsychologie in Verruf, weil Forscher sie in der NS-Zeit für die Rassenlehre missbraucht haben. Sie vermuteten eine Art menschliche Urseele in Tieren, Kindern, "Primitiven" und "Geisteskranken". Einer der Vertreter solcher Thesen ist Lorenz selbst, der die rassistischen Gesetze des NS-Regimes in mehreren Aufsätzen wissenschaftlich untermauern will. So schreibt er 1940, die Rassenpflege müsse "auf eine noch schärfere Ausmerzung ethisch Minderwertiger bedacht sein, als sie es heute schon ist". Um die Tierpsychologie von ihrem schlechten Bild zu befreien, benutzen Konrad Lorenz und seine Kollegen ab 1949 ausschließlich den wissenschaftlicher klingenden Namen Ethologie, später Verhaltensbiologie. Die "Zeitschrift für Tierpsychologie", jahrelang eine der bedeutendsten Fachpublikationen, wird 1985 in "Ethology" umbenannt. Lorenz bleibt als Person und Wissenschaftler umstritten, hält er doch bis zuletzt an der These fest, in einer erfolgreichen Gesellschaft müsse krankes Erbmaterial ausgesondert werden. Trotzdem erhält er 1973 den Medizin-Nobelpreis für seine Verhaltensforschung.

Wer sich heute noch Tierpsychologe nennt, betreibt keine Forschung, sondern behandelt verhaltensauffällige Haustiere - zum Beispiel die Katze, die Besucher attackiert, oder den Hund, der nicht allein bleiben will. Geschützt ist der Titel nicht; oft bezeichnen sich Tierheilpraktiker oder Trainer in Hundeschulen als Tierpsychologen.

Vermenschlichung des Tieres?

Sowohl Humanpsychologen als auch Ethologen kritisieren den Begriff Tierpsychologie: Im Gegensatz zum Menschen könne man bei Tieren nur das Verhalten beobachten, nicht das Erleben und das Bewusstsein, beides ebenfalls Teile der Seele. Konrad Lorenz weist bereits 1951 auf diese Schwierigkeit hin: "Gewiss ist die Vermenschlichung des Tieres, die auch dem Wissenschaftler gelegentlich unwissentlich unterläuft, eine der größten Fehlerquellen der Tierpsychologie. Es kommt ja eben darauf an, das Verhalten des Tieres und seine Gesetzlichkeiten zu erforschen, ohne in irgendeiner Weise vermenschlichende Aussagen über das Erleben des Tieres zu machen." Die Graugans Martina hielt sich nicht an diese Maxime, sie behandelte den Menschen Lorenz für den Rest ihres Gänselebens wie eine Mutter.

Stand: 03.02.2012

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