Die ersten Operationen des Chirurgen Harvey Cushing verlaufen desaströs. Alle Patienten sterben. Doch Harvey Cushing, geboren 1869 in Cleveland, Ohio, USA, operiert unermüdlich, entwickelt neue Instrumente, zeichnet präzise Skizzen des menschlichen Gehirns. Heute gilt er als Vater der Neurochirurgie, als brillanter Gehirnchirurg. Sein größtes Verdienst: Er zeigt, dass unnötig viele Menschen bei Eingriffen am Gehirn sterben. Die Tumoren der Patienten, die Ende des 19. Jahrhunderts die gefährliche Äthernarkose überleben, werden während der Operation mit der Hand umfahren und herausgerissen. Cushing setzt als einer der Ersten auf sanftere Methoden und lässt Puls-, Atemfrequenz und Blutdruck überwachen – und senkt so die Sterblichkeitsrate von über 50 auf 30 Prozent. Professor Hartmut Collmann, Medizinhistoriker der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie, sagt: "Damals, also 1905, wurde jeder vierte Hirntumor überhaupt nicht gefunden. Jeder zweite war nicht zu entfernen und jeder zweite bis dritte Patient überlebte den Eingriff nicht." Und Professor Ulrich Sure, Chefarzt der Neurochirurgie an der Universitätsklinik Essen, ergänzt: "Im Übrigen wurde auch sehr häufig der Kopf an der falschen Stelle aufgemacht und dann eine Woche später an einer zweiten Stelle ein weiterer Versuch gemacht."
"Keine Rücksicht auf die Gefühle der Patienten"
Harvey Cushing wächst als zehntes Kind in einer sittenstrengen Familie auf. Als Medizinstudent schreibt er seinen Eltern fast täglich. Sein Vater, der das Studium zahlt, legt ihm nahe: "Das ist die Eintrittkarte ins Berufsleben. Halte Dich fern von ruinösen Versuchungen wie Trinken, Glücksspiel und unmoralischen Frauen. Wir setzen sehr hohe Erwartungen in Dich." Am renommierten Johns Hopkins Hospital in Baltimore beginnt Harvey Cushing unter dem bekannten Chirurgen William Halsted seine Karriere. Als junger Arzt reist Cushing nach Europa - dort sollen Ende des 19. Jahrhunderts die besten Chirurgen der Welt arbeiten - und ist enttäuscht vom rauen Umgang mit den Patienten, dem Rauchen und Trinken im OP-Saal, den rabiaten Operationsmethoden. Cushing schreibt: "Ein Mädchen - halbnackt - wurde in den OP gebracht und auf dem Tisch präpariert - vor der versammelten Klasse - fröstelnd vor Kälte. Bedeckt mit nassen Kleidern wurde sie ohne jede Betäubung operiert, nicht mal mit ein bisschen Morphium. Sie hat geschrien. Es schockt mich jedes Mal, dass sie gar keine Rücksicht auf die Gefühle der Patienten nehmen." Zuwider ist ihm auch die Geschwindigkeit. "Man operierte relativ schnell, um den Blutverlust - man konnte keine Blutstillung machen - gering zu halten", erklärt Ulrich Sure. Allein Theodor Kocher in Bern arbeitet anders. Der Schweizer operiert langsam und gewebeschonend, was Cushing sich abschaut. "Er hat ja später durchaus Operationen von zehn, zwölf Stunden durchgeführt. Und das war bis dahin vollkommen unmöglich, nicht vorstellbar", sagt Sure. Als Chirurg verschließt Cushing während der Operation blutende Gefäße mit einer von ihm entwickelten Strompinzette.
Viel arbeiten, wenig schlafen
Zurück in den USA stürzt sich der junge Arzt in die Arbeit, schläft wenig mehr als sechs Stunden und verlässt das Krankenhaus selten. Am 21. Februar 1902 führt er seine erste Gehirnoperation durch. Medizinhistoriker Collmann: "Das ist das Datum seiner ersten Hirntumoroperation, die letztlich auch anschließend - der Patient hat nicht überlebt - durch eine Autopsie gesichert wurde." Bekannt wird Cushing auch mit seiner Beschreibung einer Hormonerkrankung der Hirnanhangsdrüse: die Cushing-Erkrankung oder Morbus Cushing. Nun kommen die jungen Ärzte aus Europa zu ihm, dem berühmten Arzt, in die USA. Am 7. Oktober 1939 stirbt Harvey Cushing an einem Herzinfarkt.
Stand: 21.02.2012
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 21. Februar 2012 ebenfalls an Harvey Cushing. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.